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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0454
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Psychologie der Weltanschauungen

36i

Lebens im Möglichen sind zu charakterisieren, das Lebendige bleibt durch diese Extreme nur
als das Mittlere, Paradoxe be|stimmbar. Allgemein sind beide, Möglichkeit und Notwendigkeit, 395
das Selbst kann endlich in beiden Seiten sich festrennen, als unendliches Selbst steht es beiden
gegenüber, beide in sich aufnehmend.
Leben in Möglichkeit bei Mangel der Notwendigkeit: »Die Möglichkeit scheint dann dem Selbst
größer und immer größer zu sein. Es wird mehr und mehr möglich, weil nichts wirklich wird.
Zuletzt ist es, als wäre alles möglich, aber das geschieht gerade, wenn der Abgrund das Selbst
verschlungen hat. Im Augenblick zeigt sich etwas als möglich, und dann zeigt sich eine neue
Möglichkeit; zuletzt folgen diese Phantasmagorien so hurtig aufeinander, daß es ist, als wäre al-
les möglich, und das ist gerade der letzte Augenblick, wo das Individuum selbst ganz und gar zu
einer Lufterscheinung geworden ist... Was fehlt, ist eigentlich die Kraft zu gehorchen, sich un-
ter die im eigenen Selbst liegende Notwendigkeit zu beugen, was man die eigene Grenze nen-
nen muß. Das Unglück ist daher auch nicht, daß ein solcher Mensch nichts in der Welt wurde,
nein, das Unglück ist, daß er nicht auf sich selbst, d.h. darauf aufmerksam wurde, daß sein Selbst
ein ganz bestimmtes Etwas und also das Notwendige ist.«
Leben in Notwendigkeit bei Mangel der Möglichkeit: »Der Determinist, der Fatalist... hat als Ver-
zweifelter sein Selbst verloren, weil für ihn alles Notwendigkeit ist... Das Selbst der Determini-
sten kann nicht atmen, denn es ist unmöglich, einzig und allein das Notwendige zu atmen, wel-
ches das Selbst des Menschen nur erstickt ...« »Die Persönlichkeit ist eine Synthese von
Möglichkeit und Notwendigkeit. Ihr Bestehen gleicht daher dem Atmen, das Ein- und Ausat-
men ist.« »Wenn einer verzweifeln will, so heißt es: Schaff Möglichkeit, schaff Möglichkeit, Mög-
lichkeit ist das einzig Rettende. Eine Möglichkeit! dann atmet der Verzweifelnde wieder, er lebt
wieder auf, denn ohne Möglichkeit kann ein Mensch gleichsam keine Luft bekommen.« -
Das Weltbild des Menschen hat eine typisch entgegengesetzte Form, je nachdem
ob die Notwendigkeit oder die Möglichkeit verabsolutiert wurde, während das Welt-
bild des lebendigen Selbst beide paradox zu synthetisieren strebt.
Das Weltbild der Möglichkeit verabsolutiert den Zufall. Tyche beherrscht die Welt.
Der Mensch kann alles fürchten vom irrationalen, sinnlosen Weltlauf, aber auch,
wenn er stark ist und seinem Glücke glaubt, alles hoffen. Es ist zunächst eine Beruhi-
gung des geängsteten Menschen, wenn er Gesetzmäßigkeit, Notwendigkeit an Stelle des
Zufalls sieht. Notwendigkeit herrscht nun in seiner Welt, das Schicksal ist gesetzmä-
ßig, bestimmt. Eines der Motive des astrologischen Glaubens, sofern dieser nur das un-
entrinnbare Schicksal erkennen, nicht es schlau meistern will, ist der amor fatbf514 Der
unerbittliche Zwang lastete zwar, aber er befreite auch »von der sinnlosen Willkür des
Zufalls«.515 Die Einsicht in ihn schafft Seelenruhe. Dieser Trost der Notwendigkeit ist
in reinster Form z.B. im Weltbild des Spinoza gegeben.
| Seinen Lehrsatz: »Sofern die Seele alle Dinge als notwendig erkennt, insofern hat sie eine 396
größere Macht über die Affekte oder leidet sie weniger von ihnen«, erläutert er in der Anmer-
kung: »Je mehr diese Erkenntnis, daß nämlich die Dinge notwendig sind, sich auf die Einzel-
dinge, die wir uns deutlicher und lebhafter vorstellen, erstreckt, um so größer ist diese Macht

Dies führt Boll aus: Sternglaube und Sterndeutung, Leipzig 1918.
 
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