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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0455
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Psychologie der Weltanschauungen

der Seele über die Affekte. Dies bestätigt ja auch die Erfahrung: denn wir sehen, daß die Trauer
über ein verlornes Gut gemildert wird, sobald der Mensch, der das Gut verloren hat, erwägt, daß
es auf keine Weise erhalten werden konnte. So sehen wir auch, daß niemand deswegen ein klei-
nes Kind bemitleidet, weil es nicht sprechen, nicht gehen und nicht vernünftig denken kann
... Wenn aber die meisten Menschen als Erwachsene geboren würden, und nur der eine oder an-
dere als Kind, dann würde jeder die Kinder bemitleiden, wenn man die Kindheit nicht als etwas
Natürliches und Notwendiges, sondern als einen Fehler oder ein Gebrechen der Natur ansehen
würde1)«-516 Dem Begreifen der Dinge als mit Beziehung auf eine gewisse Zeit und einen gewis-
sen Ort existierend stellt Spinoza das Begreifen der Dinge als aus der Notwendigkeit der göttli-
chen Natur folgend gegenüber. Dieses Begreifen der Notwendigkeit nennt er ein Begreifen, »un-
ter einer Art der Ewigkeit« (sub specie aeternitatis). Der Weise, der so die Dinge sieht, wird kaum
in seinem Gemüte bewegt, sondern seiner selbst und Gottes und der Dinge nach einer gewissen
ewigen Notwendigkeit bewußt. Es liegt in der Natur der Vernunft, die Dinge nicht als zufällig,
sondern als notwendig zu betrachten.
Es ist ein verführendes Bild, das Spinoza vom Weisen entwirft. In unberührbarer
Apathie sieht er alles als notwendig, das Individuelle, zeitlich-räumlich Bestimmte ist
nichtig. Der Mensch zerfließt im Allgemeinen der Notwendigkeit, des Gesetzes, des
Aöyog. Er betrachtet metaphysisch, historisch, naturwissenschaftlich überall in groß-
artiger Perspektive die Notwendigkeit in allem Dasein und sich selbst diszipliniert er
zur Ruhe angesichts dieser Notwendigkeit, in der er in mystischer Liebe als Individuum
versinkt.
Die einzigartige persönliche Gestalt des Spinoza, die ganz von dieser Philosophie
durchdrungen war, kann nicht darüber täuschen, daß dieses Weltbild solche psycho-
logische Prägung nicht häufig auszuüben pflegt. Die bloße Betrachtung des Notwen-
digen lenkt von dem individuellen Sinn, der Aufgabe des Selbst ab, sie gibt eine billige
Beruhigung zumal für alles Elend der anderen, sie schaut dem Weltgeschehen zu wie
dem Brande Roms, ohne selbst dabei zu sein. Das Individuum selbst ist dann leicht je-
nes anhängende Wesen, das ungeprägt, zufällig, zufrieden ist, solange es ihm äußer-
lich gut geht, aber verzweifelt, wenn es anders kommt, eben weil es von dem Weltbild
nicht durchdrungen ist. Das ist darum fast unmöglich, weil die Erfahrung den Men-
schen nicht in allgemeiner Notwendigkeit, sondern immer wieder als unendliches ir-
397 rationales Individuum und bei aller | rationalen Berechenbarkeit notwendiger Zusam-
menhänge letzthin im Ganzen doch als irrationales Schicksal existieren läßt. Der
Mensch fühlt immer wieder seine Möglichkeit, sein absolut individuelles Selbst, sich
als den Einzelnen. Er bäumt sich auf nicht nur gegen das hoffnungslose Geängstetsein
vor dem sinnlosen Zufall, sondern auch gegen die Seelenruhe der Apathie, die ihn als
Individuum aufhebt, den Rest der Zeit bloß hinzuleben gestattet, die ihm das Leben
als individuelles sinnlos erscheinen läßt, das keine Aufgabe hat, in dem nichts ent-
schieden wird.

Spinoza, Ethik V, Lehrs. 6.
 
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