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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0457
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364

Psychologie der Weltanschauungen

4. Der Mensch überhaupt.
Das Allgemeinmenschliche nannten wir das Generelle, Allgemeinverbreitete, eine
Summe des Durchschnittlichen und Gewöhnlichen. Der Mensch überhaupt ist die
Idee einer Totalität. Das Allgemeinmenschliche ist das Abgeschliffene, Angeähnelte;
der Mensch überhaupt das unerreichbare Ganze des Menschlichen, das gegen den Un-
terschied von häufig und selten, gewöhnlich und erlesen indifferent ist, vielmehr al-
les Menschliche hierarchisch, gemessen, harmonisch gestaltend in sich aufnimmt.
Als bloße Freude an der Mannigfaltigkeit des Könnens und Erlebens bestand das
Ideal des uomo universale in der Renaissance. Als Ideal der Humanität hat die Hingabe
an das Menschliche überhaupt ihren tiefen Ausdruck in der Zeit des deutschen Idea-
lismus gefunden. Der Mensch fühlt sich der Idee nach als Mikrokosmos, er strebt das
Ganze des Menschen in sich zu verwirklichen. Nichts Einzelnes wird ihm absolut, al-
les ist relativ auf das Ganze. Im augenblicklichen Erleben, im konkreten Schicksal wird
momentan das Absolute erlebt, aber alsbald verloren im Konflikt mit anderen, weite-
ren Aufgaben des Menschen überhaupt. Nachher wird das im Augenblick Absolute re-
lativiert, in Zerrissenheit und Schuld die Antinomie zwischen dem Einzelnen und
Ganzen erfahren, aber der Tendenz nach harmonisierend gelöst (in der Idee der Hu-
manität als einer Ganzheit, im dichterischen Weltbild, in Schöpfung von Gestalten
oder in Betrachten durch philosophische Begriffe). Nachträglich wird alles zum Erleb-
nis unter anderen Erlebnissen, ursprünglich war es ewig und absolut gemeint. Die Ent-
wicklung des Humanen, sofern er Ernst mit der Auflösung alles Einzelnen macht, führt
399 ihn anfangs in allen Sphären einmal in innigste Beziehung zum | Einzelmenschen, zu
einem Menschen des anderen Geschlechts, zu einem Beruf usw., im weiteren aber lö-
sen sich alle diese Beziehungen, die ihn festhalten wollten, er wird im Laufe des Le-
bens immer einsamer, nicht weil er nicht verstanden würde, sondern weil er nie den
absoluten Entschluß zur unbedingten Beziehung zum Einzelnen, besonders nicht in
der Liebe, fand und festhielt, weil er von sich aus mehr zu sein trachtet als ein Mensch,
zum Ganzen, zum Menschen überhaupt, zum Mikrokosmos drängt. Er wird im Laufe
seines Lebens der Tendenz nach immer mehr bloß betrachtend, bloß spiegelnd, weil
alle seine Erlebnisse der Tendenz nach relativiert, eingesargt werden und von ihnen
bloß die gewaltige Disziplinierung des durchgestalteten und geordneten Selbst bleibt,
das immer weniger ein Einzelnes ist. An Stelle des Lebens tritt nicht der Idee nach, aber
faktisch, beim Humanitätsideal die Betrachtung, das Allesverstehen. Da der Humane
alle Sphären, also auch die ethische, aufnimmt, leidet er tief unter den Auflösungen
seiner Einzelschicksale, unter seiner Treulosigkeit, und versagt er sich bewußt, Schick-
sale bloß des Erlebens willen geschehen zu lassen. Da diese Tendenz in ihm unvermeid-
lich vorhanden ist, bleibt ihm nur das Prinzip der Entsagung und des Ertragens, in wel-
chen negativen Leistungen allein er der Ethik gehorcht, da der positive Entschluß, der
das Absolute im Einzelnen erfahren kann, ihm als Erlebnis fehlt, als das Einzige, das
der Humanität widerspricht. Goethe ist das grandiose Beispiel: wie er später jede Liebe
 
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