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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0458
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Psychologie der Weltanschauungen

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zu einer Frau abbricht, wie er Christiane Vulpius521 erträgt. Das Weltbild des Huma-
nen ist letzthin harmonisch und optimistisch. In allem Kampf der Kräfte beherrscht
ihn selbst die Tendenz zu harmonischer Lösung, in der Welt sieht er diese Harmonie
vorgebildet, er vertraut der Natur, er leugnet das für den Menschen Absolute der Anti-
nomien (Goethe beklagte und verwarf es, daß Kant das radikal Böse lehre).522 Sofern
es nicht durchführbar ist (und niemand ist wahrhafter, objektiver als der Humane),
sieht er den Rest als das Rätselhafte: durch Goethes Weltbild zieht überall das Dämo-
nische als eine respektierte Grenze. Der Humane sucht sich dem großen Entweder-
Oder zu entziehen, er versteht alles und möchte nicht mit hinein in den Strudel, der
gewaltsam die Kräfte zerlegt und gegeneinander treibt. Er ist nicht heroisch, sondern
harmonisch verbindend; er setzt nicht alles auf eine Karte, weil ihm nichts konkret
Einzelnes absolut werden kann. Seine Kräfte sammeln sich nicht in einem Punkte, bäu-
men sich nicht gewaltsam auf, in Taten die Welt zu bewegen oder selbst zu zerschel-
len, sondern sie fließen in immer sich verbreiterndem Strom ruhig, alles berührend,
jedem etwas bietend, dahin. Die humane Persönlichkeit wird die reichste, erfüllteste
Gestalt.| Sie darf sagen: nihil humanum a me alienum puto,523 jedoch außer dem Ei-
nen, das als ihr Gegensatz jetzt zu charakterisieren ist.
Der Mensch entzieht sich der Totalität des Menschlichen überhaupt, indem er auf
ein konkretes Schicksal entscheidenden Wert legt. Während im Humanitätsideal al-
les Einzelne relativiert wird zugunsten des organischen, universalen Ganzen, ist die-
ser Mensch Absolutist des Konkreten. Der Humane überwindet und assimiliert alles,
der Absolutist kann ein Erlebnis - z.B. Liebe zu einem Menschen - zum endgültigen Le-
bensschicksal werden lassen. Vom Standpunkt des Humanen ist dieser gewaltsam, un-
natürlich, verrannt. Vom Standpunkt des Absolutisten ist der Humane nicht mehr exi-
stierend, da er alles Endliche, Konkrete diesseitig schon relativiert zu einem Ganzen,
das es bloß für die Betrachtung, nicht für die Existenz gibt; der Humane wird der Ten-
denz nach am Ende als der Allweise Verblasen, substanzlos, während der Absolutist exi-
stentiell erst ewigen Sinn, Substanz gewinnt: denn nur im Endlichen kann er unend-
lich existieren. Der Absolutist muß - das ist ihm das Leben - durch einen Engpaß: ein
Wunsch, ein Schicksal werden ihm der Sinn. Der Humane weitet sich aus, wird zum
»kompletten« Menschen, der immer hinter jedem Einzelschicksal, Einzelerlebnis
steht, um es zu relativieren und aufzunehmen, eben als ein »Erlebnis«. Für den Abso-
lutisten ist es das Kennzeichnende, daß er nicht allgemeinen Imperativen formulier-
ter Art gehorcht. Sondern er ringt um seine Substanz, die er verliert, wenn er nicht kon-
kret wählt, wenn er seine Wahl nicht festhält, wenn er untreu ist, wenn er nicht in der
Existenz das Absolute erfährt.
Der Gegensatz besteht zwischen gewaltigen Personifikationen: Plato, Goethe,
Humboldt einerseits, Sokrates, Kierkegaard andrerseits').524 Sowie man dem einen

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Kierkegaard spricht charakteristisch über Goethe: IV, 129-135.
 
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