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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0462
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Psychologie der Weltanschauungen

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In allen Sphären der Existenz ist der Gegensatz zu verfolgen; z.B. beim Arbeiten
steht sich gegenüber: die Arbeit mit Werkzeugen, die Eigentum und Herrschaftsbe-
reich des Einzelnen sind, und die Arbeit, die nur an Werkzeugen in einer Organisation
möglich ist; Arbeiten, die auf individuellen Zielen beruhen und durch Individuen er-
reichbar sind, und Arbeiten, die nur durch Gemeinschaft zu leisten sind. Die Freude
an Veränderung und Gestaltung der Welt in der Eigenarbeit, dem persönlichen Herr-
schaftsbewußtsein steht das Herrschaftsgefühl als Glied einer Gruppe in der Freude an
der Weltgestaltung in Gruppenarbeit gegenüber.
Bestehende Gruppen und Organisationen halten sich für das Objektive und üben
nicht nur äußerlich, sondern gerade innerlich in der Seele der Menschen einen groß-
artigen Zwang aus, dem zu widerstehen der Existenz beraubt. Dem entgegen entwirft
der Individualist die Theorie: der Staat, die Ordnung, die Gesellschaft habe dem Ein-
zelnen zu dienen, nicht umgekehrt. Es sei Unrecht, die Individuen einem Ganzen zu
opfern, das selbst nichts sei außer der Summe der Individuen. Das Ganze ist bloß Ap-
parat für die Zwecke des Einzelnen, sonst nichts.
Diesen Extremen gegenüber bleibt der konkret lebendige Mensch sich seiner Wur-
zeln, seiner spezifischen Bedingtheit und des Werts dieses absolut Individuellen be-
wußt. Er kann zwar als Einzelner existieren, aber nur, indem er zugleich das Ganze auf-
nimmt. Für ihn ist das Individuum er selbst und zugleich Teil des Ganzen, von dem er
sich nicht lösen kann. Er trägt, »übernimmt« den Wert und Unwert des Ganzen, des-
sen Glied er ist, übernimmt die Schuld der Väter, ja hat als Pathos: sich mit dem Vater
schuldig zu fühlen').531 Er kann nicht verleugnen, nicht äußerlich und nicht innerlich,
woher er kommt. Er fühlt sich treu, aber auch substantiell verbunden. Nie würde als
abstraktes Atom ein bloßes Individuum Existenz haben. Das Individuum ist nur durch
die Gesellschaft, ohne sie nichts; und doch ist das einzig Wirkliche das Individuum.
| Neben und gegen die Hingabe an die Gemeinschaft, der ewigen Zugehörigkeit zu
ihr besteht im Menschen ein individualistischer Drang zur Verselbständigung als Pro-
zeß, als lebendiges, antinomisches Problem, nicht als abstrakter Sprung zum Atom. In
der Geschichte entsteht aus dieser Isolierung Einzelner der größte Teil des Schöpferi-
schen, das dann nach anfänglicher Ablehnung von der Gemeinschaft aufgenommen
wird. Wie es ohne soziale Solidarität keine Kontinuität und keine Bewahrung geisti-
gen Erwerbs geben würde, so ohne individualistisch isolierende Kraft keine Neuschöp-
fung. Kant zeigte den Antagonismus von Geselligkeit und Ungeselligkeit, verstand die
menschliche Entwicklung aus der »ungeselligen Geselligkeit«.532 Aus diesem Antago-
nismus wächst nach Kant Talent, Eigenart, überhaupt alles Wertvolle. Das bloße Ge-
meinschaftsbewußtsein tötet alle isolierenden Kräfte. Nur sofern sie sie assimilieren
und bewahren kann, nimmt die Gemeinschaft solche Individuen auf. Die stärksten
individualistischen Kräfte des Geistes werden zu allen Zeiten in die Einsamkeit ge-

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Kierkegaard V, 23.
 
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