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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0472
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Psychologie der Weltanschauungen

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tere Beispiele wären der Typus des | Revolutionärs, der sich für Abstraktionen, Ver- 416
nunft, prinzipielle fixe Ideen faktisch opfert, im konkreten Leben aber ein eitler, zü-
gelloser, undisziplinierter Großsprecher und Genußmensch ist; oder der jederzeit im
Duell auf seine Ehre Bedachte, der im Leben sich nicht das Geringste versagen kann.
Das Wagen des Lebens will nicht den Tod, sondern das Leben. Sein Sinn wird auch
und gerade erfüllt, wenn das Wagnis bestanden wird. Es ist ein Akt im Prozesse des
Selbstwerdens, nach welchem dieser Prozeß weitergeht. Ganz anders sieht der Tod aus,
wenn er als ultimum refugium544 gewählt, wenn in ihm, nicht als einem Wagnis, son-
dern als einem Gewollten, das Selbst, das sonst in Gefahr wäre, bewahrt wird. Der
Selbstmord hat ein Pathos, wie das Wagen des Lebens, aber das Selbst, das in ihm erhal-
ten werden soll, ist gar nicht ein Prozeß des Selbstwerdens, sondern ein Bestimmtes,
Festes, z.B. Würde, ästhetisch genießendes Dasein. Es sind orthodox fertige Anschau-
ungen, die bei allen konkreten Schwierigkeiten ihrer irrealen Weltbilder, Wertungen,
Ziele in dem Gedanken des Selbstmords nicht nur Trost, sondern Pathos finden. Wenn
das Leben in disziplinierter Lust nicht mehr gelingen kann, wähle den Selbstmord,
sagt der Epikureer. Wenn das Leben dir die Würde nimmt, dein Ziel der Selbstdiszipli-
nierung stört, wähle den Tod, sagt der Stoiker. Und so sagen viele, die nicht mehr im
Prozeß des Selbstwerdens, sondern im fertigen Gehäuse (bei allem Schein des Werdens)
existieren, das mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat. Die Mehrzahl der antiken Phi-
losophen nach Plato hatte diese Gesinnung: das Leben ist eine Vorbereitung auf den
Tod. Der Gott verbietet zwar, ohne sein Geheiß das Gefängnis des Leibes zu durchbre-
chen. Wenn aber Veranlassung da ist, wenn das Schicksal gleichsam wie eine Obrig-
keit den Menschen abruft, so freut sich der Weise, daß er sterben darf. So schied nach
philosophischer Auffassung Cato gern aus dem Leben nach Cäsars Sieg, weil er durch
den Untergang der Republik seine Würde verlor und nun genügend Veranlassung
hatte, das Leben zu verlassen, mit dem stolzen Bewußtsein: den Göttern habe die Sa-
che der Sieger, ihm aber die der Besiegten gefallen.545 Der freiwillige Tod ist solcher Phi-
losophie der letzte Trost überall, von den Körperschmerzen bis zur sublimen Würde-
losigkeit, die das Schicksal bringt. Cicero resümiert'):546 »Mag auf einen alles
hereinbrechen, daß einer an dem freien Gebrauch der Augen und Ohren gehindert sei,
er mag auch noch von den heftigsten Körperschmerzen heimgesucht sein... Wenn sie
aber in die Länge sich ziehen und | nichtsdestoweniger ärger peinigen, als daß Grund 417
vorhanden sein sollte, uns denselben zu unterziehen, was gibt es dann, o ihr guten
Götter! endlich, warum wir uns plagen sollen? Da haben wir ja den Hafen vor Augen,
weil da eben dann der Tod da ist, die ewige Zuflucht, um nichts zu empfinden ...
Paullus erklärte dem Perseus, der bat, man möchte ihn nicht im Triumphe auffüh-
ren: >das steht in deiner Macht<... Mir scheint im Leben jenes Gesetz festgehalten zu
sein, worauf bei den Gastgelagen der Griechen streng gehalten wird. Es lautet: >Entwe-

Tusculan. V. 40.
 
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