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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0474
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Psychologie der Weltanschauungen

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den in der Mannigfaltigkeit der Gestalten, in denen der Mensch sein Selbstwerden er-
fährt, irgendwann oder irgendwo einmal ihre Aufhebung. Bei historisch kasuistischer
Verfolgung von Gestalten würden viele Reihen sich ergeben können, deren Ziel sich
zuletzt überall in metaphysisches Dunkel verliert.
2. Die Stufen des Bewußtseins.
Der Mensch kann spezifisches Individuum sein, in den Differenzen seines Wesens ge-
genüber den Eigenschaften der Masse, in der Kraft der Willkür gegenüber dem Allge-
meingültigen existieren, ohne es zu wissen. Er kann seine Individualität zum Ausdruck
bringen, in seinem Handeln durch das Besondere, Irrationale, Zufällige zeigen, und
dabei kann er naiv, dessen unbewußt sein; ja die völlige Unbewußtheit läßt Willkür
und Irrationalität leichter gedeihen. Man kann daher in bezug auf gebundene Zeiten
doch von einem Individualismus reden, der aber wesensverschieden ist von dem be-
wußten. Im bewußten Individualismus weiß der Mensch von seiner Individualität,
macht sie selbsterkennend, selbstgestaltend zum Gegenstand, bejaht oder verneint sie.
Und schließlich entsteht aus diesem Bewußtsein Einzelner eine objektive Lehre, die
den Individualismus in seinen mannigfaltigen Gestalten als Ziel aufstellt, vom Leben
fordert. Faktische individuelle Existenz, bewußte individualistische Einzelexistenz, indivi-
dualistische Lehre lassen sich als Stufen des Bewußtseins auffassen (entsprechend die
Gegensätze: faktische Massenexistenz, bewußte Allgemeinmensch|lichkeit, universa-
listische Lehre), die dem Individualismus jeweils eine neue Gestalt geben; und zwar ist
in dem naiven, unmittelbaren Individualismus die Tendenz zum Zufälligen, Chaoti-
schen, in dem Leben nach individualistischer Lehre die Tendenz zu unechten Daseinsfor-
men, welche reich, aber bloß nachgemacht, übernommen, aber nicht durchdringend,
äußerlich, nicht aus dem Wesen sind. In der naiven Unmittelbarkeit des Individuel-
len ist sich der Mensch unproblematisch nur als des Allgemeinen, des Menschlichen,
der Sitten, des Objektiven überhaupt bewußt. In der Reflexion des individualistischen
Selbstbewußtseins ist die Tendenz zu einem nihilistischen Auflösungsprozeß alles Ob-
jektiven, Universalen und schließlich des »Selbst«. In der Lehre wird harmonisch die
Einheit gesucht und als »Persönlichkeit«, »Geist«, Einheit von Subjekt und Objekt be-
stimmt. Jedoch kann dieses durch Lehre nicht geschaffen, sondern nur umschreibend
psychologisch betrachtet werden.
Die vollkommene rationale Durchsichtigkeit des Individualismus oder Universa-
lismus, der Lehre geworden ist, scheint die höchste Stufe des Bewußtseins, jedoch ist
sie, wie alle rationale Fixierung dessen, was seinem Wesen nach lebendig, antino-
misch ist, eine Sackgasse, die das rationale Bewußtsein überall wird, wo es sich zum
letzten macht. Es ist vielmehr gerade das Bewußtwerden, das Durchsichtigwerden,
das Offenbarwerden des Selbst ein unendlicher Prozeß. Eine höchste Stufe des Be-
wußtseins läßt sich gar nicht bezeichnen, sondern nur dieses lebendige Werden des

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