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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0475
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382

Psychologie der Weltanschauungen

Selbst im Offenbarwerden umschreiben, wie es über alle rationalen Konsequenzen
hinaus im Erfahren und ganz konkreten Reagieren und Handeln sich selbst gegen-
über sichtbar ist.
3. Das Offenbarwerden.
Die tiefsten Betrachtungen hierüber hat Kierkegaard angestellt. Er ist im folgenden
referiert. Dabei ist versucht, seine Sätze aus den verschiedenen Werken zusammenzu-
nehmen, zu konstruieren, zu ergänzen und vor allem wegzulassen, was irrelevant für
den gegenwärtigen Zweck schien (z.B. alles »Christliche«). Doch sind die meisten Sätze
wörtlich von ihm. Wer Kierkegaard kennen lernen will, wird ihn selbst lesen, hier
ist er nicht seiner selbst, sondern des Problems wegen referiert und dabei vielleicht et-
was vergewaltigt.
Was ist das Selbst? »Selbst bedeutet eben den Widerspruch, daß das Allgemeine als das Ein-
zelne gesetzt ist«1).547 Der Mensch existiert nicht, wenn er nicht als »Einzelner« existiert. Er kann
420 sich in kein Allgemeines | auflösen, ohne die Existenz zu verlieren; sofern er aber bloß Einzel-
ner ist, ist er kein Selbst. Selbstwerden heißt, daß das Allgemeine im Einzelnen wird und keines
von beiden beiseite geschoben ist.
Das Selbst ist aber als Werden kein Naturprozeß, der etwa wie die Folge der Lebensalter ein-
fach abrollt. Sondern das Zentrale des Selbst ist, daß sich hier etwas zu sich selbst verhält; in die-
sem Verhalten zu sich selbst liegt der Prozeß des Werdens: »Der Mensch ist eine Synthese von
Unendlichkeit und Endlichkeit, vom Zeitlichen und Ewigen, von Freiheit und Notwendigkeit,
kurz eine Synthese. Eine Synthese ist ein Verhältnis zwischen zweien. So betrachtet ist der
Mensch noch kein Selbst«11).548 Damit er ein Selbst sei, muß sich das Wesen dieser Synthese sei-
ner bewußt sein. Das Verhältnis, wie Kierkegaard sagt, muß sich zu sich selbst verhalten;
dann ist es das Selbst. Da der Mensch eine Synthese ist, hört seine Existenz, sein Selbst auf,
wenn er die eine Seite der Synthese verliert. Der wirkliche Mensch ist diese Synthese, die zu
durchdringen der Prozeß des Selbstwerdens ist. Daher: »Selbstwerden heißt konkret werden.
Konkret werden heißt aber weder endlich noch unendlich werden, denn was konkret werden
soll, ist ja eine Synthese ...Jedoch ist ein Selbst in jedem Augenblick seines Vorhandenseins im
Werden, denn das Selbst Kara Svva/iiv549 ist nicht wirklich da, sondern bloß etwas, was entste-
hen soll«111).550
Das Selbstbewußtsein ist, wie das Wort sagt, Bewußtsein. Es wird in der Reflexion. »Je mehr Be-
wußtsein, desto mehr Selbst«i ii iii iv).551 Es wird in der Erfahrung des eigenen Willens, der vom Medium
der Reflexion abhängig ist. »Je mehr Wille, desto mehr Selbst. Ein Mensch, der gar keinen Wil-
len hat, ist kein Selbst; je mehr Willen er aber hat, desto mehr Selbstbewußtsein hat er auch«v).552
Das Selbstbewußtsein ist nicht Kontemplation, sondern Tat, der Prozeß, den Kierkegaard In-

i V, 74. Zitiert wird durch Band- und Seitenzahl der bei Diederichs erschienenen Ausgabe der Werke.
ii VIII, IO.
iii VIII, 2Öff.
iv VIII, 26.
v VIII, 26.
 
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