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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0488
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Psychologie der Weltanschauungen

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allem etwas Aufgegebenes. Durch alle Fasern ist der lebendige Realist mit der konkreten
Wirklichkeit verwachsen, darum hat er Respekt vor der Wirklichkeit als Totalität, vor
dem Gewaltigen, was da ist, geschaffen und gestaltet von dem aktiven Realismus der
Menschheit. Er kann sich nicht einbilden, die ganze Wirklichkeit von neuem, von un-
ten auf erbauen zu wollen und zu können, nach seinen Prinzipien sie nun erst »richtig«
und »gerecht« zu machen. Er kennt die Wirklichkeit aus Erfahrung, er ist mit ihr eins.
Aber er hat insofern wieder gar keinen Respekt, als es nichts Wirkliches gibt, das nicht
anzugreifen, nicht umzubilden wäre. Er ist sich der Tat bewußt, wenn solches geschieht,
der Verantwortung. Dabei vermag er sich an keinem formulierten Prinzip zu berauschen
und gestattet sich nicht den Trost, bei Mißerfolg zu sagen: das sei eben tragisch, womit
der Fanatiker sich relativ leicht beschwichtigt. Er sieht keine Garantie für das Recht des
Tuns im bloßen Aufopfern des Lebens. Hingabe des Lebens rechtfertigt subjektiv jeden
Fanatiker und Irrealen. Er bedarf tieferer Rechtfertigung in dem Daimonion,605 in dem
Glauben, der ihm Richtung gibt ohne zureichende Objektivierung in Grundsätzen, so-
viele solcher auch als vorübergehende Hilfsmittel genutzt werden. Es ist ihm kein Trost,
wie es dem Irrealen ist, daß man sich schlimmstenfalls ja sein Leben nehmen könne. Er
fühlt es als seine Pflicht, so zu wählen und zu handeln, daß er der Wirklichkeit gemäß
handelt, die er umgestalten will; und wenn die Wirklichkeit nicht gehorcht, fühlt er es
als seine Schuld, während der Irreale über die schlechte Wirklichkeit klagt. Die äußerste
Steigerung der Verantwortung und Verzweiflung ist im psychologischen Prozeß der Weg
um zur Intuition der Richtung des | konkreten Handelns zu kommen, während das
Handeln nach einem bloßen Prinzip und in blinder Selbstaufopferung oberflächlich
und der Wirklichkeit fern bleibt zugunsten einer Welt des Rechts, der Richtigkeit der
Werte, der Geltungen, die dem in Abstraktionen eingefangenen Unlebendigen zuungun-
sten der Wirklichkeit alles, dem Realisten wenig sind.
Was aber zu tun sei, welche Ziele zu erstreben seien, das ist für den Realismus nie
endgültig zu sagen. Das ist das Gehäuse der jeweiligen Rezepte, die für die Menge nö-
tig sind, Rezepte, die immerfort sich wandeln. Gerade der lebendige Realist, mit dem
Halt im Unendlichen, weiß nur für das ganz Konkrete schließlich, wie er hier und jetzt
zu handeln habe, und fühlt sich doch beherrscht von dem Dämon, der Ausdruck ei-
ner Idee und Richtung ist, die er nicht als Lehre und Rezept vor sich hinstellen kann.
Sein Streben ist, ein ganz spezielles, konkretes Bild der Wirklichkeit zu erlangen, in der
er lebt. Ein allgemeines Weltbild in mannigfacher Gestaltung mag dessen Hintergrund
sein, ist aber an sich täuschend und irreführend, da es gerade auf das Individuelle, Ge-
genwärtige, Einmalige der Lage ankommt. Überall und in jedem Augenblick ist alles
anders, die allgemeinen Weltbilder sind bloße Schemata, die nie völlig passen für die
Wirklichkeit, in der gehandelt werden soll. Fortwährend wird Grund und Zweck des
Handelns zwar rational angegeben werden können, für den Augenblick Prinzip und
Rezept, besonders auch für die abhängigen Mitarbeiter fixiert sein, aber es binden den
Realisten nicht Prinzip und Rezept - nur Ideen, die in keiner Weise endgültig und ganz

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