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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0491
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398

Psychologie der Weltanschauungen

les objektiviert sich nur als Resultat des Augenblicks, des im nächsten schon überwun-
denen Moments, nur in der Form der Aphorismen und Fragmente. Der Strom des über-
steigerten, alles Geschaffene alsbald einschmelzenden Lebens hinterläßt nur diesen
gewaltigen Trümmerhaufen genialen Reichtums als sein Objektives. Jedes Ganze, sei
es Werk des Denkens im System, sei es Dichtung, bleibt unvollendet, ist in der Anlage
Fragment, ein großer Aphorismus. Im Handeln, in Liebe und Freundschaft ist dasselbe:
die gewaltigste Steigerung des Augenblicks, die größte Vertiefung, aber die Unfähig-
keit des Festhaltens, Ausbildens, zur Ganzheit Gestaltens, weil der forttreibende Strom
des Dämonischen an neue beherrschende Schicksale und Erfahrungen hintreibt. All
dies Romantische hat etwas Meteorisches. Wo dieser Meteor auftaucht, leuchtet er,
empfindet die Umgebung dieses Leuchten, aber fort fliegt er und ist verschwunden,
vergessend, treulos vom Gesichtspunkt des objektiven Betrachters und des Realisten.
Alles wühlt er auf in sich und um sich, soweit dies nicht geistlos vertrocknet, philiströs
bürgerlich geborgen und unberührbar ist - dort macht er nur »ästhetischen« Ein-
druck -, gerade das Edle um sich erfaßt er, schafft gewaltigste Erhebung und tiefen
Schmerz, ist selbst unfaßbar, unbegreiflich, rätselvoll wie das Leben.
Für manche Gestalten des Lebens sind vorübergehende Phasen gewisser psychopa-
thologischer Prozesse die übersteigerten Idealtypen. Dieser romantische, dämonische
Typus ist nicht ganz ungewöhnlich, wenn auch selten, weil nur bei besonderen Bega-
bungen, in den Anfangsstadien schizophrener Prozesse. Eine unerhörte Unrast, eine
andauernde Erlebnisfülle, ein plötzlich unterbrechendes Bewußtsein der Haltlosigkeit
und Ziellosigkeit; ekstatisches Glückserleben metaphysischer Tiefe und verzweiflungs-
volles Suchen; eine die Teilnehmenden faszinierende künstlerische Tiefe; z.B. ein Kla-
vierspiel, wie man es nie für möglich gehalten hat, so unendlich gefühlstief, fremd,
unheimlich und bezaubernd: ein gar nicht sehr musikalischer Vater, der nicht ahnte,
daß seine Tochter im Krankwerden war, sagte, er ertrüge dieses Spielen nicht mehr und
konnte sich ihm doch nicht entziehen.607 Unbegreifliche Dichtungen - sonst vielleicht
nie dichtender Menschen - verraten die intuitiven Erlebnisse, die sich in alle Abgründe
zu senken scheinen. Und was eben da war, ist vorbei; was der Freund noch festhält, ist
diesem dämonisch Rasenden schon entschwunden, der in neue Welten geraten ist.

438 | 3. Der Heilige.
Die Heiligkeit findet das Wesentliche weder in Weltgestaltung noch in Selbsterfah-
rung, sondern sie greift zum Absoluten direkt. Eines tut not: des Absoluten als des Ab-
soluten gewiß zu sein, das letzte Unbedingte zu haben, den Sinn im Absoluten selbst
zu erfahren. Von da aus ist alles Endliche nichtig; die Welt und das Selbst, beider un-
endliche Entwicklung, Gestaltung und Erfahrung sind nicht etwa verneint, aber un-
wesentlich, sie sind als Gesamtheiten, nicht bloß in einzelnen Stadien überwunden.
Alle drei Typen - der Realist, der Romantiker und der Heilige - haben ihren Halt im Un-
endlichen, die beiden ersten aber im Prozeß, der letztere im Unendlichen als dem Ab-
 
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