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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0492
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Psychologie der Weltanschauungen

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soluten, das Gott heißt, selbst. Alle drei sind in ihrem Leben und Handeln unbedingt,
die ersteren beiden aber in Hinsicht auf Welt und Selbst, mit Rücksicht auf Erfahrung
und Wirkung, der letztere in der absoluten Unbedingtheit, die gleichgültig gegen Welt
und Selbst ist. Die Quellen dieser Unbedingtheit sind eine spezifische Erfahrung: es
kommt auf etwas an, das dem Menschen, der in der Welt und in der Persönlichkeit
steht, fremd, ja nichtig ist. Es wird eine zeitlose Heimat erfahren, die als Heimat zu ver-
lieren Gefahr ist. Es kommt auf gar nichts Gegenständliches, Reales, Irdisches an, al-
les, da es nichtig ist, wird gern, ohne Haß verloren oder gar nicht achtend zerstört. Nur
eines: Liebe Gottes und heilige Lebensführung sind wichtig; heilige Lebensführung,
d.h. keine Klugheit in der Selbstgestaltung, in Menschenbehandlung, Handeln aus
Liebe, d.h. aus dem Konkreten in Hinsicht auf das einzig wichtige Ziel jeder Seele: Gott
anzugehören; etwas unendlich Vieldeutiges, vor jeder Formel, jeder Regel, jedem Ge-
setz Stehendes.
Wir sind eingestellt in die Antinomien des Daseins, die unvermeidlichen Endlich-
keiten, die Unvermeidlichkeiten bei jeder geringsten Weltgestaltung, die Konflikte,
Kompromisse, die Klugheiten und die Erfahrungsbedürfnisse unseres endlichen Selbst.
Unvermeidlicher Zufall, unvermeidliche Schuld, unvermeidliche Inkonsequenz zwi-
schen Wille und Erfolg, zwischen Meinen und tatsächlichem Effekt sind unser Schick-
sal. Der Heilige fühlt alle Verzweiflungen, die daraus entspringen, verneint nicht Welt
und Selbst, aber setzt sich über sie als nichtig hinweg, indem er es wagt und kann, ohne
Welt und ohne fortgesetzte Selbsterfahrung zu leben, als ob er nicht endlich, sondern
im Unendlichen als Ganzem und Fertigem wäre, als ob er nicht den Bahnabschnitt ei-
nes unendlichen Prozesses durchliefe, sondern im Absoluten selbst das Absolute wäre.
Aller endlichen Fesselungen entledigt er sich und entschlägt sich | aller direkten Wir-
kung auf die Welt, indem er sich, sofern er aus sich heraustritt, seinerseits nur an das
Absolute, an die Potenz zur Heiligkeit im Andern sich wendet: »Ihr sollt vollkommen
sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.«608
Stellen wir die drei Typen des Realisten, des Romantikers und des Heiligen nebenein-
ander, so können sie in folgenden Formeln charakterisiert werden: der Realist behan-
delt die Menschen, sie sind ihm Mittel oder Teile; der Romantiker erweckt die Men-
schen, weist sie auf sich selbst zurück: folge nicht mir nach, sondern dir; der Heilige
tritt geradezu in die Seele der anderen, verstehend, wagend, liebend, er ist ihnen der
Weg, der Halt, er fühlt sich berechtigt und verpflichtet, daß Andere sich an ihn hän-
gen, ihm nachfolgend. Alle drei wirken durch ihre Persönlichkeit und durch ausge-
sprochene Lehre; aber nur der Realist wirkt durch direkte Gestaltung der Welt, er hat
den Machtwillen als echt, konkret, spezifisch; der Romantiker ist Individuum, er wirkt
nicht gestaltend, nicht herrschend, er wirkt nicht als konkreter Impuls, sondern als
Reiz; der Heilige wirkt durch die Seele der Seele wegen, er hat indirekt Macht, aber er
will die Macht nicht als solche, er wagt es wahrhaftig, offen Führer der Seele zu sein,

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