Metadaten

Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0493
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
400

Psychologie der Weltanschauungen

wie es der Realist wagt, Führer der Taten zu sein hinter Masken von zweckmäßigen Ar-
gumentationen. Das Resultat des Realismus ist Weltgestaltung, das Resultat der Ro-
mantik psychologische Einsicht und pädagogisches Streben, das Resultat der Heilig-
keit ist Lehre und sind Imperative, die den Menschen von innen heraus ergreifen und
mehr als alles andere beherrschen: so wird der Heilige, woran er zunächst nicht denkt,
durch die Auswirkung seiner Lehren in dem Medium der soziologischen Realitäten in-
direkt zum unbewußten Weltgestalter, der Weltgestaltung selbst nicht gesehen und
nicht gewollt hat.
Sehen wir im Realisten Willen zur Macht, im Romantiker Willen zum Selbst, im Hei-
ligen Willen zur Liebesgemeinschaft, so läßt sich dem als bloß negativer Gegensatz sub-
stanzlosen Wesens gegenüberstellen der Wille zur Ohnmacht, der nichts mit Heilig-
keit zu tun hat, Ausdruck von Bequemlichkeit, Feigheit, von Unlebendigkeit ist; der
Wille zu Leistung, zu Arbeit, zu Betrieb, sofern sie bloß Selbstflucht sind; der Wille zur
Isoliertheit, Einsamkeit, Wirkungslosigkeit, Fremdheit, Distanz, die bloßer Schutz des
toten Daseins, der unlebendigen Ruhe, der Bequemlichkeit des empirischen Selbst
sind; alle diese negativen Stellungen sind bloß passiv, nichtig, Mittel, Masken, die ein
Positives vortäuschen.
440 | III. Die Polarität des Mystischen: der Weg der Mystik und der Weg der Idee.
Auf die Frage nach dem Weg des Heils ist vielfach geantwortet worden durch Verabso-
lutierung einzelner Einstellungen, Weltbilder oder Werte. Rationalisiert liegen die An-
weisungen zur richtigen Lebensführung als einladende Gehäuse vor. Das Heil liegt z.B.
nach entgegengesetzten Lehren in der Praxis, sei es der Selbstgestaltung, sei es der
Weltarbeit, oder in der Erkenntnis, sei es der Gnosis, sei es der relativistischen For-
schung oder in der Mystik. Weil alle anderen Heilrezepte ein Einzelnes, Endliches zum
Ziel machten, erschien schließlich immer wieder diese Mystik, in der alle Subjekt-
Objekt-Spaltung aufgehoben, die Unendlichkeit als Fülle und Totalität gegenwärtig
wird, als das letzte Heil. Vielleicht ist nichts in den Gestalten des menschlichen Geistes
so allgemein und in allen Zeiten und Kulturen so ähnlich wie die Mystik. Mystik aber
ist nicht etwas Bestimmtes, sondern etwas Vieldeutiges. Man spricht vom Mystischen
als dem Erleben in mangelnder Subjekt-Objekt-Spaltung (vgl. oben über die mystische
Einstellung), aber man spricht auch von mystischem Wissen, mystischer Lebensfüh-
rung, mystischen Techniken, mystischer Liebe usw. Das Wort »mystisch« wird so viel-
deutig, daß es fast nichtssagend wird und nur den eigentlichen Sinn des Geheimnis-
vollen behält. Es bezeichnet alles Unbegreifliche, Rätselhafte, Unmittelbare, einerlei
ob die Zustände, Menschen, Ereignisse für den Erlebenden selbst oder nur für den Be-
obachter geheimnisvoll sind. So kommt es, daß sich gegenseitig ausschließende Ge-
sinnungen oder Verhaltungsweisen und Lebensführungen in einer mystischen Basis
Rechtfertigung suchen und daß von positivistischer Seite alles Unverstandene einfach
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften