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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0495
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Psychologie der Weltanschauungen

Basis, als eines Mediums bedürfen, daß wir aber gerade alles das, was uns Bedeutung
zu haben scheint, nicht unmittelbar sinnlich - wenn auch durch das Sinnliche - wahr-
nehmen: so vor allem sämtliche »Gegenstände«, die der Inhalt unserer wissenschaft-
lichen Begriffe sind, alle Beziehungen, Abhängigkeiten; dann alles Seelische, das wir
doch nicht bloß »erschließen«, sondern unmittelbar anschaulich vor uns haben, es
»einfühlen« können in alles, was wir »Ausdruck« nennen; dann die »Stimmung« der
442 Landschaften, | die uns doch neben unserer eigenen Gemütsbewegung auch gegen-
ständlich als Eigenschaft der Landschaft gegenübersteht usw.
Denken wir an den Fall, in dem unklare Gehörsempfindungen dann gegenständ-
lich gedeutet werden, also aus bloßer Bewußtseinserfüllung ein klares gegenständli-
ches Haben in Subjekt-Objekt-Spaltung herauswuchs, so können wir in Analogie dazu
an andere Prozesse der Vergegenständlichung denken: z.B. beim wissenschaftlichen
Arbeiten: Gefühl - Einfall; oder: Gemütsbewegung - Antrieb - klarer Entschluß. Es läßt
sich die - zwar sehr allgemeine - Formel aufstellen: in unserem seelischen Leben gibt
es einen Prozeß von unklarer Gemütserfüllung zu klarer Vergegenständlichung, sei
diese Vergegenständlichung in Gedankenbildung oder Kunstschöpfung oder Hand-
lung gewonnen. Vergegenständlichung und Klarheit ist dasselbe. Soweit etwas gegen-
ständlich geworden ist, ist es uns klar geworden, ist es ferner nachahmbar, wiederhol-
bar; es wird von uns selbst und von anderen auch mit Gemütsbewegungen adäquater
Art immer wieder von neuem von der Gegenstandsseite her erlebt. Der Prozeß des Her-
vorgehens des Gegenständlichen aus dem unklaren Erleben ist ein »Schaffen«, falls es
neu und original, dagegen »Aufklärung« im weitesten Sinne, wenn es von anderer Seite
unseren seelischen Bewegungen - diese mit einem Schlage erleuchtend - gegeben wird.
Jenes Erfülltsein des seelischen Lebens von den »unklaren« Bewegungen und Erlebnis-
sen und diesen Schaffensprozeß empfinden wir als das eigentliche Leben der Seele,
während das Wiederholen, Nachahmen einen mechanischen Charakter hat. Wieder-
holbar und nachahmbar und lernbar ist aber nur das vollständig Vergegenständlichte.
Immer oder fast immer ist dieser Prozeß unvollständig. Die seelische Bewegung ent-
hält mehr als objektiviert wurde, dieses Mehr - so kann man nur formal sagen - steckt
in dem »Ganzen« der Schöpfung als eine ansteckende wirkende Kraft, z.B. gegenüber
der technischen Einzelheit, dem Kniff, der Manier beim Kunstwerk, gegenüber dem
einzelnen Gedanken in der Totalität des philosophischen Werks, in der fühlbaren
»Richtung« einer empirischen Untersuchung gegenüber dem konkreten Detail und
Einzelergebnis. Die individuelle Schöpfung ist so unter Umständen fähig, uns Kräfte
zu vermitteln, uns fühlen zu lassen, in uns Bewegungen anzuregen durch Momente,
die weder dem Schaffenden noch dem Aufnehmenden gegenständlich geworden oder
klar sind - hier gibt es nichts zu wiederholen und nachzuahmen, sondern auf Grund
indirekter Mitteilung lebendig zu erfahren. Alles vollkommen Vergegenständlichte ist
uns bequemer Besitz, aber auch tot und damit langweilig.
 
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