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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0496
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Psychologie der Weltanschauungen

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| War im Falle der vorbeifahrenden Eisenbahn der gesamte Bewußtseinszustand 443
noch in halbwacher Verfassung und noch nicht, noch nirgends Subjekt-Objekt-Spal-
tung, so waren jetzt unendlich verwickelte Fälle genannt, insofern bei vorhandener
Subjekt-Objekt-Spaltung darin und darüber hinaus die Seele von Erlebnissen erfüllt
ist, die selbst noch nicht zu jener Spaltung fortgeschritten sind, bei denen man
schwankt, ob sie »bloße« subjektive Gefühle oder objektive Inhalte bedeuten. Es sind
hierhin gehörig auch die so häufigen Erlebnisse, bei denen wir sagen, daß wir etwas
wohl fühlen, aber nicht ausdrücken können, wohl wissen, aber nicht sagen können.
Suchen wir uns an einem einfachen Beispiel solches »Gefühl« und solche Vorgänge
psychologisch deutlich zu machen:
Wir sind an der Nordsee gewandert; nur Strand, Meer und Dünen, kein Mensch ringsum. Wir
liegen im Sande und Stunden vergehen kaum bemerkt, während das Meer meilenweit den
Strand entlang ruhig und immer neu brandet, die Wolken ziehen. Der Sand rieselt vor dem
Winde zwischen dem Sandhafer der Dünen. Es ist uns vielleicht zu Mute, als ob wir zeitlos exi-
stierten. Alles ist uns so vertraut, wie eine ewige Heimat. Es ist als ob unendliche, unklare Erin-
nerungen von Verwandtschaft, Einheit uns erweckt würden. Wir machen eine Beobachtung,
verfolgen eine Erscheinung, aber das ist nur eine Unterbrechung durch den Willen; sie schafft
uns alsbald neues Material, aus dem wir gleichsam alte Sagen und Märchen hören. Es ist, als ob
wir mit der Natur, die wir selbst sind, zusammenflössen.
So lassen sich mit lauter »als ob« Zustände und Bewegungen der Seele beschreiben,
die so unklar, unbewußt, unpersönlich bleiben und zergehen können, vielleicht nur als
gute, harmonische Stimmung Zurückbleiben oder als Gefühle von unreflektierten Be-
deutungen. Wenn man den Menschen fragt, was er gesehen, was gedacht habe, so kann
er nur antworten, er habe Dünen, Seegras, Sandhafer, das Meer, Möwen gesehen, das
Wetter sei mittelmäßig gewesen, der Spaziergang habe ihn in gute Stimmung gebracht.
Er hat eben alles Sinnliche gegenständlich und klar vor sich gehabt, seine Gemütsbewe-
gungen aber werden ihm nicht gegenständlich oder schwankten zwischen Objekt und
Subjekt hin und her, fast zur klärenden Spaltung neigend, sie aber nie erreichend.
Es kann aber auch in solchen Stimmungen im Menschen der Vorgang der Verge-
genständlichung einsetzen; mit einem ganz neuen Bewußtsein des Schöpferischen,
des Gegebenwerdens, sieht er sich gegenüber - angenommen, daß er jetzt nicht ein-
fach erinnernd, sentimental reproduziert, was gelernt worden - Bilder von Gestalt und
Bedeutung, er kann Geschichten erzählen von Naturwesen, er sieht Landschaften, die
er als Künstler objektiviert und so die objektive Stimmung der Landschaft schafft ge-
genüber der unbewußten, | unklaren subjektiven Stimmung. Oder ihm gehen Gedan- 444
ken auf philosophischen Inhalts, die in dieser Natur versinnlicht sind, von den Arten
der Unendlichkeit etwa, oder er hat eine religiöse Vergegenständlichung, einen Glau-
ben erfaßt oder ihm gelang aus unklaren Gemütsbewegungen ein Entschluß in einer
konkreten Lebenssituation, den er aus der Tiefe seiner Totalität oder der Objektivität
holte, die ihm hier offenbar wurde.
 
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