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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0503
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Psychologie der Weltanschauungen

des Absoluten, außer der Welt (die Welt wird nur als sekundäre Folge, als Ausbreitung
und Abfall gewürdigt), Kants Mystik ist eine in der gegenständlichen Welt - sowohl
als Überbau, wie als Quelle und Ursache des Schreitens in dieser Welt. Plotin ist in
unmittelbarer Vereinigung mit dem Absoluten, Kant ist immer in Distanz zum uner-
reichbaren Absoluten, zu dem er wohl Beziehung der Richtung und der Aufgabe und
des Sinns hat, aber mit dem er nie in Einheit ist. Bei Plotin wird ein ruhender Zustand
seliger Befriedigung im Schoße des Einen erreicht und gesucht. Bei Kant ist ein ruhe-
loses Streben in erfüllte, ideenhafte Unendlichkeiten, ein unablässiges Schreiten, das
nur um Kräfte zu sammeln vorübergehend, momentweise im Ideenerleben zu sich
kommt. Bei Plotin ist ein ruhendes Haben, bei Kant ein Haben mit dem Bewußtsein
der Unklarheit, des Dranges zur Gegenständlichkeit, die erst rückläufig das Haben
selbst vertieft. Bei Plotin ist die Konsequenz unabweislich, da das Erlebnis selbst Ziel
ist, daß die Hauptsache eine Technik der Ekstase werden müßte, bei Kant die Konse-
quenz einer Bewertung der mystischen Erlebnisse nach der ihnen zugrunde liegenden
Kraft, ideenhafte Richtungen in der gegenständlichen Welt schaffen und geben zu
können - alles andere ist Schwärmerei. Bei Plotin wird das mystische Erlebnis als end-
gültig erreichtes Ziel realer Einigung über alles geschätzt - was praktisch leicht zu be-
friedigtem Selbstgenuß, zum Rausch gleich dem des Opiums und der Sexualität füh-
452 ren muß. | Bei Kant ist das Mystische nur Anfang oder nie erreichtes Ende - es liegt als
Idee der Ideen, als mystisches Schauen auf Grund totaler Gegenstandsbemächtigung
in der Unendlichkeit -, dazwischen ist die gegenständliche Ausbreitung im Handeln
und Denken die Hauptsache für die Forderung an die Lebensführung. Das irgendwie
subjektiv erlebte Ineinander mit dem konkreten Einzelnen, einer Pflanze, einem Men-
schen wird bei Plotin ein Vorstadium im kleinen für die Steigerung dieses Erlebnisses
zum Verschmelzen mit dem Absoluten, für Kant zum Ausgangspunkt, dies Erlebnis
in klarer Subjekt-Objekt-Spaltung durch Erforschung der Pflanze, durch liebende und
geformte Gemeinschaft mit den Menschen, durch Erkenntnis der Menschenseele zu
vertiefen, indem es gegenständliche Inhalte gebiert. Durch Kant werden konsequen-
terweise die mystischen Erlebnisse nach Arten unterschieden und diese heterogen ge-
funden nach dem Merkmal der Fruchtbarkeit für die gegenständliche Welt; bei Plotin
gibt es nur subjektive Kriterien metaphysischer Offenbarung oder nicht; hier fließen
psychologisch alle Arten mystischen Erlebens ineinander.
Die Weltanschauung Kants ist in dieser Hinsicht identisch mit Goethes:
Willst du ins Unendliche schreiten
Geh ins Endliche nach allen Seiten.614
Goethe hat, als er Plotin kennen lernte, folgende kennzeichnende Bemerkungen no-
tiert:
»Man kann den Idealisten ... nicht verargen, wenn sie so lebhaft auf Beherzigung des Einen
dringen, woher alles entspringt und worauf alles wieder zurückzuführen wäre. Denn freilich ist
 
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