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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0509
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4i6

Psychologie der Weltanschauungen

der Herzogin in Sachsen-Eisenach. 1705 wurde er Inspektor und Pastor in Perleberg. Er starb hier
1714. Die Gegensätzlichkeit seines Verhaltens - einerseits Weltflucht und Heiligkeit, Aufgabe
der Professur, andrerseits dann plötzlich Ehe und Predigtamt - verursachte vielerlei Nachreden
gegen ihn. Gegen diese rechtfertigt sich Arnold in einem Schreiben an das Quedlinburger Mi-
nisterium:
»Wer nur einigen Anfang von denen verborgenen und seltsamen Führungen Gottes an sei-
ner eigenen oder andern Seele erfahren hat, der mag nach und nach capabel werden auch von
paradoxen Dingen ein solch gesundes Urteil zu fällen, daß nicht wiederum gerichtet werden
darf. Diejenigen aber können allein des Geistes Sinn und Rat im göttlichen Licht recht bemer-
ken, welche von allen Vorurteilen, selbstgemachten sectirerischen Meinungen und eigenen We-
gen, durch denselben Geist erlöset, und hingegen dem unvermischten (lautern reinen) und al-
lerheiligsten Zug des Vaters in und zu seinem Sohn offen und untergeben bleiben. Solche geübte
Sinnen mögen alleine wissen, wie viele und ganz unterschiedene Zustände und Beschaffenhei-
ten einer Seelen sich nach und nach wechselweise ereignen, und wie mancherlei seltsame Auf-
gaben und Proben offte nacheinander von Gott vorgeleget werden; daß dahero auch in äußer-
lichen Neben-dingen, die nicht das Wesen der himmlichen Güte selbst angehen, manche
Abwechslungen sich äußern mögen, die der Vernunft einander zuwider, oder eins das andere
aufzuheben scheinet, und ungeachtet im Grunde und in dem angefangenen Wesen der neuen
Geburt der einmal vereinigte und offenbarte Jesus Christus gestern und heute und in Ewigkeit,
eben der selbige in den seinen bleibt und nicht verändert wird ...«
Dazu bemerkt der Herausgeber: »Denn daß der weise Gott seinen Kindern, wenn er sie auf
der einen seifen treu befunden, hernach auf eine andere Seite und einen ganz anderen Weg in
äußerlichen Dingen führet, und so zu sagen eine contraire lection, eben wie dem Abraham vor-
legt, und zuweilen von einer Sach entblößet und entbindet, darinn er sie hernach wiederum
stellet, ist aus vielen Exempeln der heiligen Schrift offenbar.«621
Stellt man in das Zentrum die Idee einer echten und erfüllten Mystik, so leiten sich
von diesem Zentrum mannigfache Gestalten ab, die zwar mystisch heißen, von denen die
Geschichte der Mystik voll ist, die aber als formalisierte und unechte nicht für das My-
stische überhaupt genommen werden dürfen. Der echte Mystiker hat etwas Freies, Gei-
stiges. Er ist nicht auf eine Formel zu bringen. Die ekstatischen Erlebnisse sind die
höchsten Gipfel eines Daseins, das jede Minute der Existenz und jede Bewegung des
Menschen erfüllt. In der Entleerung zu bloßer Form und zum Unechten wird der Ge-
459 nuß des Erlebnisses der Ekstase immer mehr iso|lierter Selbstzweck. Das Leben wird
eine langgedehnte Öde, die durch Ekstase unterbrochen wird. An Stelle einer die To-
talität des Menschen ergreifenden Lebensführung tritt eine psychologisch raffinierte
Technik zur Herbeiführung zeitlich immer begrenzter mystischer Zustände. An Stelle
der subjektiv erlebten unaussagbaren Fülle tritt einerseits Bewußtseinsleere mit stump-
fen Glücksgefühlen, andererseits eine Menge von Materialisierungen des Mystischen
in Visionen und dergleichen, die rationalisiert eine mystische Gnosis vermitteln, die
dem ursprünglichen Wesen der Mystik als Erlebnis der erfüllten Unendlichkeit in man-
gelnder Subjekt-Objektspaltung als eine neue Verendlichung (nur ohne reale Bedeu-
tung) ins Gesicht schlägt. Diese gegenständlichen Inhalte der Gnosis müssen in den
 
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