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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0510
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Psychologie der Weltanschauungen

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öden Strecken des Lebens die Gemütsbewegungen künstlich hinaufsteigern, wie die
Techniken eine narkotische und exzitierende Wirkung zwecks Erzeugung von Bewußt-
seinstrübungen erwünschter Art zum Selbstgenuß ausüben. Die Lebensführung wird
völlig chaotisch, da die Hingabe an die Wege Gottes praktisch zum Nachgeben gegen-
über jedem Impuls wird. Das mystische Leben, da es keine positive Lebensordnung
gibt, führt tatsächlich zu der großen Mannigfaltigkeit der Gestalten, weil die Erfüllung
dieses zwanglosen Sichhingebens an göttliche Impulse durch die besonderen Charak-
tere ebenso den chaotisch und zufällig lebenden Libertin, dem schließlich die Sexua-
lität an die Stelle der übersinnlichen Seligkeit tritt, als den freien, jedes Zwanges unfä-
higen, »natürlichen« und edlen Menschen möglich macht. Gemeinsam bleibt allen
das Formale: daß sie sich nicht auf Gründe, nicht auf Grundsätze und Aufgaben beru-
fen, daß darum mit ihnen keinerlei Diskussion möglich ist, daß sie nicht nur, wie die
ideenhaften Menschen, letzthin nichts Festes anerkennen, sondern auch den Weg
durch alle die Festigkeiten in der Folge von Bejahungen und Überwindungen, in der
Hinaufbewegung durch alles Endliche und Rationale ablehnen. Sie vermögen sinnvoll
nicht auf Gründe zu hören, vielmehr berufen sie sich auf ihre reale Gottesgemein-
schaft und Gottes Willen, der sich ihnen selbst auf unfaßliche Weise offenbart. Es
herrscht das Gefühl der letztlichen Verantwortungslosigkeit. In der Zeit wird eigent-
lich nichts entschieden. Der Mystiker hat keine Entwicklung, er hebt alle Entwicklung
zugunsten einer Zeitlosigkeit auf. Vom Standpunkt der Welt in Subjekt-Objektspal-
tung gesehen, liegt in seinem Leben keine Kontinuität. Die Existenz ist ihm keine zeit-
liche, verantwortungsvolle, sondern eine zeitlose, übersinnliche, ewig entschiedene.

| 2. Die Idee. 460
Das echte Leben der Idee ist Bewegung innerhalb der Subjekt-Objektspaltung, ist Be-
wegung im Endlichen. Das Leben der Idee ist nicht unmittelbar, einfach als Erlebnis
gegeben und erfüllt, sondern nur vermittelt durch Handeln in der Welt, Erfahrung,
Reflexion, Selbstbesinnung usw. So irrational die Idee ist, sie tritt nicht als das Irratio-
nale auf, das das Rationale beiseite schiebt, sondern wird lebendig durch unendliche
Bewegung im Rationalen, es durchdringend und übergreifend. Die Idee lebt nicht au-
ßerhalb der Wirklichkeit (etwa sie ignorierend und auf Grund glücklicher Zufälle, die
als solche sogar verneint werden, existierend, oder ihr ausweichend und äußerlich un-
terliegend), sondern durch die Wirklichkeit, in der sie bewegt und gestaltet. Wenn aber
die Idee nicht ohne Verkörperung im Endlichen lebt, so ist sie doch nicht selbst ein
Endliches, sondern das Endliche ist ihr Weg. Durch sie gewinnt das Endliche einen
Sinn und ewige Bedeutung. Es ist verknüpft mit einem Ganzen und Ewigen. Sofern der
Mensch in der Subjekt-Objektspaltung, in Raum und Zeit lebt, muß ihm Endliches
und Einzelnes, der zeitliche Augenblick, die Entscheidung in der Welt so wichtig sein,
als ob das Ewige hier erst entschieden würde, von dieser zeitlichen Entscheidung ab-
 
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