Metadaten

Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0511
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
418

Psychologie der Weltanschauungen

hänge. In der verabsolutierten Kontemplation wird das Absolute in einen Inhalt ge-
legt, den der Mensch anschauen und denken kann, in der Mystik in ein übersinnliches
Erlebnis, das den Menschen außerhalb der Welt führt, in der Idee aber in Handeln und
Bewegung, Tätigkeit und Arbeit, in Aufgaben für diese Welt. Hier gilt die KANTsche
These, daß nur das Praktische Erkenntnis des Übersinnlichen verschaffe. Hier steht
auch Kierkegaard, wenn er die Existenz bewahrt gegen die Metaphysik als bloßes
Denken allgemeingültiger Inhalte und Forderungen, und gegen die Mystik als zeitlose,
Leben und Entscheidung vernichtende Isolierung. Da die Ideen nicht objektiv wer-
den, sondern nur ihre Bewegungen im Endlichen, so gibt es auch kein objektives Kri-
terium der Idee, da es objektive Kriterien nur für Endliches geben kann. Mystik und
Idee sind Akzentuierungen des Subjektiven, sind Appell an die subjektive Existenz,
aber die Mystik ist die subjektivere, weil sie das bloße Erlebnis der als real beurteilten
Vereinigung mit dem Absoluten will, die Idee ist vergleichsweise eine Akzentuierung
des Objektiven, weil sie immer im konkreten Fall nur ein Bestimmtes und Endliches
will und Objektivierung als Tat, Leistung, Bewährung verlangt. Das Absolute ist ihr nur
inkorporiert im Endlichen, nicht selbst und nicht direkt gegeben. Im Mystischen kann
461 der Mensch das Absolute, | Gott, die Menschheit, das Nichts lieben, kann er gegen-
standslos lieben, in dem Leben der Idee liebt er den einzelnen Menschen, ein Konkre-
tes und Einzelnes, eine Sache, eine Aufgabe, ein Werk.
Die Abwandlung der ideenhaften Existenz unter Verlust ihrer Substanz kann ent-
weder die Idee (das Mystische im weiteren Sinne, das durch sie bleibt und bewegt) ver-
lieren unter bloßer Zurückbehaltung des Endlichen und Einzelnen, das nun den Fa-
den zum Übersinnlichen und zur ewigen Bedeutung verliert; oder sie kann die
Bewegung im Endlichen verlieren zugunsten einer Schwärmerei für Ideen, in der die
Ideen vermeintlich direkt ergriffen werden, wie in der Mystik das Absolute. Die von
allem Unendlichen entleerte Diesseitigkeit einerseits und die Ideenschwärmerei an-
dererseits sind Gestalten, die sich nicht für ideenhafte Existenz ausgeben können. Der
einen fehlt zur Substanz das Ewige und Totale, der andern das Konkrete, die Verleibli-
chung und die Bewegung.
Mystische und ideenhafte Existenz zeigen zum Teil parallele Gestalten, in denen sie
ihre Substanz verwandeln und verlieren. Rationalisierung führt in der Mystik zur Gno-
sis und zu entsprechenden Materialisierungen, in der Idee zu dem absoluten Wissen
Hegels. - Der Mystiker ist gegen Werke, gegen Gesetz und Regel und Ordnung, er wirkt
in dieser Welt anarchistisch und zerstörend. Der ideenhafte Mensch, der das Werk be-
jaht, wird leicht »werkheilig«, ihm verselbständigt sich das Einzelne zum absoluten
Isoliertsein und Endlichsein; so kann er entseelend, verödend, mechanisierend wir-
ken. - Dem Mystiker ist als Ideal wünschenswert ein Endzustand der Ruhe und des blo-
ßen ewigen Seins. Dieses Ideal wird ihm z.B. zum Ideal eines Reiches Gottes auf Erden
in einer universalen Kirche, in der keine Bewegung mehr ist, sondern nur die Mittel
zum Erwerb des Übersinnlichen zu direkter Vereinigung mit ihm gegeben sind. Noch
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften