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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0518
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Kants Ideenlehre

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Die Ideen geben keine eigene Anschauung, sie beziehen sich direkt nur auf den Ver-
stand, wie dieser wiederum auf Anschauung. Indem sie dem bloßen Aggregat der Ver-
standeserkenntnis systematische Einheit bringen, könnte es scheinen, daß sie nur Zu-
sammenhänge der Wahrheiten unter sich, nicht im Reich der Gegenstände fänden.
Aber der ideenhafte Zusammenhang ist nicht der der analytischen Wahrheiten, in dem
nichts Neues auftritt, sondern der Zusammenhang der Wahrheiten, die jede für sich
wieder etwas Neues lehren. Denn der Zusammenhang, der durch Ideen gefunden wird,
ist nicht willkürlich, zufällig, zweckmäßig für wissenschaftliche Praxis, sondern in der
Sache selbst muß er angelegt sein. Während aber in der Sphäre des Verstandes Erfül-
lung durch Anschauung, und darum Bestimmtheit eintritt, kann diese Übereinstim-
mung des ideenhaften Zusammenhangs in der Sache selbst mit dem systematischen
Zusammenhang | in der wissenschaftlichen Erkenntnis immer nur Annäherung, im-
mer nur unbestimmt und problematisch bleiben.
Sieht man von der Verschiedenheit der Ideen und der damit zusammenhängenden
systematischen Einheiten zunächst noch ab, so läßt sich alle Ideenbildung nach Kant
auf ein Prinzip zurückführen. Vergegenwärtige man sich einige Beispiele:
Zur einzelnen Wirkung finden wir eine Ursache, zu dieser weitere Ursachen und
ganze Ursachenreihen und Ursachenkomplexe usf., so daß wir immer weniger einzelne
isolierte Kausalzusammenhänge haben. Aber wir arbeiten immer weiter, ohne je das
Ganze eines Kausalzusammenhanges, der die Welt umfaßt und in unendlichen Ket-
ten und Gliederungen erklärt, zu finden. Dabei verfahren wir nach dem Prinzip: im-
mer mehr Beziehungen, immer allseitiger Beziehungen zu finden, als ob alles durch-
gehend Zusammenhänge. - Ein zweites Beispiel: Wir suchen unter den Gegenständen
die gleichartigen und bilden Arten, aus diesen Gattungen, Klassen. Aber wir kommen
nie dazu, aus einem umfassenden Gattungsgegenstand alle einzelnen Gegenstände
durch Klassen, Gattungen und Arten hindurch abzuleiten. - Ein drittes Beispiel: Wir
erfassen in der Astronomie die Lagebeziehungen von Sternwelten, dringen in immer
ungeheuere Weiten mit exakten Rechnungen, aber wir erfassen nie die ganze Welt,
denn wir kommen nie an eine Grenze. Die Welt ist kein in der Erfahrung gegebener
Gegenstand.
Das Gemeinsame dieser Fälle ist: Wir suchen die Totalität der Ursachen, das Gat-
tungsganze der mannigfachen Gestalten, das Ganze der räumlichen Welt, indem wir,
von der Idee dieser Ganzheiten geleitet, unablässig vorwärtsschreiten, solange die Idee
in uns wirkt und nicht durch einen fälschlichen, vorzeitigen, antizipierenden Ab-
schluß vernichtet wird. In allen diesen Fällen werden die Ideen gewonnen, indem über
alle Reihen hinaus, über die Reihen der Bedingungen das Unbedingte, über das Ein-
zelne das Ganze nicht gefunden, aber intendiert wird.
Das beherrschende Prinzip der Ideenbildung ist also: das Unbedingte oder das Ganze
zur Leitung zu nehmen. Dies Unbedingte ist nicht etwa ein erster Anfang der Ursa-
chenreihen, nicht eine Grenze des Raumes, sondern das Ganze (oder die Totalität) der

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