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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0526
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Kants Ideenlehre

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Diese tiefsinnigen Gedanken Kants - die sich der merkwürdig äußerlichen logi-
schen Formel der Bestimmung des Einzeldinges durch Disjunktion von Begriffspaa-
ren bedient - lehren, daß jedes Individuum unendlich, daß es, sofern es Gegenstand der
Erkenntnis wird, Idee ist. Wir mögen noch so viel von Individuen reden, uns mit Indi-
viduen beschäftigen, wir sind nicht ihrer Erkenntnis als Individuen zugewandt, wenn
uns nicht die Idee dieses Individuums als Aufgabe vor Augen steht. Da das Individuum
als Individuum immer Idee ist, ist es somit letzthin unerkennbar. Die Idee aber des In-
dividuums besteht nur in der Idee des Ganzen überhaupt, der Mikro |kosmos nur in Be- 172
Ziehung auf den Makrokosmos. Ein Individuum erkennen wollen heißt die Welt über-
haupt erkennen wollen. Die Idee des Individuums ist nicht weniger unendlich als die
Idee des einen allumfassenden Individuums, auf das wir in der Idee der Erfahrungsto-
talität überhaupt gerichtet sind. Nehmen wir mit Kant an, daß die Ideen, für das Er-
kennen unendliche Aufgabe, praktisch erlebt und erfüllt werden und nennen wir die-
ses Erleben einmetaphysisches, das subjektiv bindend, objektiv ohne Geltungsanspruch
und ohne Formulierung ist, so entspricht diesen Einsichten über die Idee des Indivi-
duums, daß praktisch das Einzelindividuum als in der Totalität des Alls enthalten, ja
an seiner Statt erlebt wird.
In Anwendung z.B. auf die Idee der Persönlichkeit würden wir nun zwei Ideen ha-
ben: die Idee der Persönlichkeit als Erfahrungsric/üimg, als Idee des Ganzen der ver-
ständlichen Zusammenhänge, und die Idee der Persönlichkeit als die Idee der einzel-
nen, konkreten Persönlichkeit. Diese letztere wird praktisch, metaphysisch erlebt ohne
Objektivierung, theoretisch erkannt mit Hilfe jener Erfahrungsrichtung der unwirkli-
chen Persönlichkeit und anderer Erfahrungsrichtungen, dazu aber nur in Beziehung
auf das Ganze der Erfahrung, den Makrokosmos.
Man kann Ideen nicht anders erfassen, als nur dadurch, daß man in ihnen lebt. Sie di-
rekt ergreifen wollen, statt indirekt im Medium des Endlichen und Einzelnen, führt zur
Phantastik und damit zum Nichtigen. Man kann z.B. nicht die Seele direkt erfassen,
sondern nur in der Breite psychologischer Einzelerkenntnisse. Man kann nicht Gott di-
rekt erkennen, sondern nur in der Breite der Selbst- und Welterfahrung religiös existie-
ren. Man kann nicht das Ziel des Ethischen erkennen, sondern nur im Einzelnen han-
delnd indirekt, subjektiv erfahren, ob und daß es hier eine Richtung auf Totalität gibt,
die nicht zu fassen und nicht zu begreifen ist. Die theoretischen Ideen sind wirklich nur
im Medium des Verstandes. Der Verstand steht zwischen zwei Irrationalitäten, ohne
die er leer ist, die aber ohne ihn nichts sind. Er ist hingewandt auf die Breite der An-
schaulichkeit des Materialen und bewegt von den Kräften der Ideen. Das Anschauliche
geht als Irrationales über den Verstand hinaus, aber wird von seinen Begriffen umfaßt.
Die Ideen gehen über den Verstand hinaus, indem sie seine Grenze, ihn selber umfas-
sen; seine Begriffe können die Ideen nicht einfangen, sondern nur auf sie hinzei|gen. 173
Faßt man alles, was nicht Verstand ist, im Gegensatz zu dem Formalen der Verstandes-
 
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