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Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0529
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Kants Ideenlehre

bloßer Richtigkeit und Klarheit. Durch den Faden zur Idee bleibt überall ein Rest von
Unklarheit; was absolut klar und erledigt ist, erweckt darum den Verdacht der Ideen-
losigkeit, der bloßen Richtigkeit, die keinen weiteren Sinn hat. Richtigkeiten lassen
sich ins Endlose häufen, sie müssen durch die Idee an ein Ganzes geknüpft sein.
Ein zweites Mal wendet Kant eine psychologische Betrachtung der Ideen an bei
Gruppierung der wissenschaftlichen Charaktere in solche, deren Interesse von der Idee
der Einheit, und solche, deren Interesse von der Idee der Spezifikation geleitet wird').645
Die einen z.B. sind ihrem Wesen nach geneigt, »besondere und in der Abstammung
gegründete Volkscharaktere oder auch entschiedene und erbliche Unterschiede der
Familien und Rassen usw.« anzunehmen, die anderen setzen ihren Sinn darauf, »daß
176 die Natur in diesem Stücke ganz | und gar einerlei Anlagen gemacht habe«. Weitge-
hendste Differenzierung, immer fortzusetzende Unterschiede ist die Leidenschaft des
einen, möglichste Vereinheitlichung ja völlige Natureinheit die Leidenschaft des an-
deren. Beide haben recht, sofern sie Suchende unter Leitung ihrer Idee sind; beide ha-
ben unrecht, wenn sie ihre Idee verabsolutieren und damit als real hypostasieren.
2. Die methodologische Bedeutung.
Um z.B. das Gemeinsame einer großen Reihe von Tiergattungen festzustellen, entwirft
man schematische Zeichnungen, etwa die schematische Zeichnung »des« Wirbeltiers.
Bei einem solchen Schema stellt man nicht die Fragen: Ist es richtig oder falsch? Ist
es real vorhanden, etwa als Urwirbeltier, oder nicht?, sondern allein die Frage: Ist es
brauchbar? Es soll brauchbar sein für didaktische Zwecke, zur schnellen Vergegenwär-
tigung alles das vor das Bewußtsein zu bringen, was bei jedem Wirbeltier zu finden ist,
zur Entwicklung von Fragestellungen für weitere Deskription. Das ist die methodolo-
gisch-technische Bedeutung dieses Schemas").646 Die methodologische Bedeutung ist
leicht faßlich: Die Ideen sind Gesichtspunkte, die wir, nicht als transzendentales Sub-
jekt überhaupt, sondern als wissenschafttreibende Menschen an die Erfahrung heran-
bringen. Die urbildliche Wahrheit oder die Gegenstände selbst wissen nichts von Sy-
stem und von Ideen. Wir aber in der abbildlichen Wahrheit der Wissenschaft brauchen,
etwa aus ökonomischen Rücksichten, Systematik und dazu Ideen. Diese laufen im
Prinzip an objektiver Bedeutung eigentlich auf dasselbe hinaus wie Kataloge, nur daß
sie rationeller und fruchtbarer, also brauchbarer sind. Die Ideen haben eine bloß wis-
senschaftlich-technische Bedeutung, höchstens kann man sagen, wir betrachten die
Erfahrung »als ob« in ihr etwas den Ideen entsprechendes wirklich wäre. Die Bedeu-
tung der Ideen liegt ganz in der abbildlichen Sphäre der wissenschaftlichen Wahrhei-
ten. Ohne sie ist keine Wissenschaft möglich, aber wohl wären ohne sie Erfahrung und

i B. 694ff.
ü Solche und viele andere Arten methodischer Brauchbarkeit von »Fiktionen« im Kantischen Sinne
findet man zusammengestellt in Vaihingers Philosophie des Als-ob.
 
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