Metadaten

Jaspers, Karl; Immel, Oliver [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 6): Psychologie der Weltanschauungen — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69894#0532
License: Free access  - all rights reserved
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Kants Ideenlehre

439

unsere Erkenntniskraft ein weit höheres Bedürfnis fühle, als bloß Erscheinungen nach
synthetischer Einheit zu buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können, und
daß unsere Vernunft natürlicherweise sich zu Erkenntnissen aufschwinge, die viel wei-
ter gehen, als daß irgendein Gegenstand, den Erfahrung geben kann, jemals mit ih-
nen kongruieren könne, die aber nichtsdestoweniger ihre Realität haben und keineswegs
bloße Hirngespinste sind«1).656
Überblicken wir die dreifache Bedeutung der Idee, die psychologische, methodo-
logische und objektive, so bemerken wir: Immer, wenn man das Wesen der Idee fassen
will, ein Urteil über sie fällt, faßt man sie zunächst in einer jener drei Bedeutungen;
will man diese genauer fassen, schreitet man alsbald zur anderen Bedeutung hinüber
und kann die drei Bedeutungen gar nicht voneinander trennen; will man eine verstehen, so
muß man alle drei verstehen. Die Idee ist zugleich subjektiv und objektiv. In ihr hat
die Subjekt-Objekt-| Spaltung, die das endgültige Wesen des Verstandes ist, keine ab- 180
solute Bedeutung; sondern nur soweit die Idee im Medium des Verstandes als Metho-
dologisches sich auswirkt, erfährt sie die Subjekt-Objekt-Spaltung, darüber hinaus ist
sie mehr, aber was sie ist, wird immer nur durch den Prozeß im Medium der Spaltung
offenbar und nie vollendet offenbar. -
Bisher wurde fast nur von der theoretischen Idee, von der Idee in der Sphäre des Er-
kennens gesprochen. Die Ideenlehre Kants geht jedoch durch alle Sphären. Sie ist insofern
das Zentrum seiner Philosophie, als sie in jedem Werk auftritt, während der kategorische
Imperativ, die Kategorienlehre usw. alle nur ihren letzthin einmaligen Ort haben und
insofern peripherer für das Ganze sind. Die Ideen kehren, nachdem sie im Theoreti-
schen genauestens untersucht sind, im Praktischen und Ästhetischen wieder.

Die praktischen Ideen
Die menschliche Vernunft zeigt wahrhafte Kausalität, indem die Ideen zu wirkenden
Ursachen werden, nämlich im Sittlichen“).657 Hier machen »die Ideen die Erfahrung
selbst (des Guten) allererst möglich«, obzwar sie niemals in der Erfahrung völlig aus-
gedrückt werden können'“).658 Die Idee wird hier zum Urbild und zum Begriff von einer
Vollkommenheit. Plato hat, nach Kant, das Verdienst, die Ideen vorzüglich in allem,
was praktisch ist, gefunden zu habeni * iii iv).659 So ist z.B. (in der platonischen Republik)
»eine Verfassung von der größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen, welche ma-
chen, daß jede Freiheit mit der Anderen ihrer zusammen bestehen kann,... doch we-
nigstens eine notwendige Idee«v).66° Wie »groß die Kluft, die zwischen der Idee und ih-
rer Ausführung notwendig übrig bleibt, sein möge, das kann und soll niemand

i B. 37of.
“ B. 374.
iii B. 375.
iv B. 371.
v B.373.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften