Stellenkommentar
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Jaspers und der Begriff des >Gehäuses<, in: H. R. Yousefi u.a. [Hg.]: Karl Jaspers. Grundbegriffe sei-
nes Denkens, Reinbek 2011,169-179). Eine Jaspers analoge Verwendung des Gehäusebegriffs fin-
det sich auch bei Georg Simmel, der von einem fundamentalen Gegensatz von Form und Le-
ben spricht. Die Gehäuse versteht Simmel als Erzeugnisse des Lebens, aber auch als das, »woran
es sich bricht, wodurch es vergewaltigt wird«. Ferner heißt es bei Simmel: »Hören wir dann aber,
wir sollen immer die rechte Mitte halten, oder unser Handeln als allgemeines Gesetz vorstellen
können, oder uns nach dem größtmöglichen Nutzen der größtmöglichen Zahl richten, [...] so
spüren wir vielleicht, daß zwar tiefe und inhaltreiche ethische Erlebnisse diese Formulierun-
gen gewissermaßen als ihre Silhouette entwickelt haben; nun aber stehen sie als feste Gehäuse
da und wollen das unendlich bewegte, unendlich differenzierte gesollte Leben in sich hinein
zwingen, das sie doch bald überflutet, bald unausgefüllt läßt« (G. Simmel: Lebensanschauung.
Vier metaphysische Kapitel, München, Leipzig 1918,162-163 [KJB Oldenburg: KJ 4307]; Georg Sim-
mel Gesamtausgabe, Bd. 16, hg. von G. Fitzi und O. Rammstedt, Frankfurt a.M. 1999,352-354).
Vgl. zum Einfluss Simmels auf Jaspers: H. Tennen: »Georg Simmel und Karl Jaspers - ein Ver-
gleich«, in: H. Böhringer, K. Gründer (Hg.): Ästhetik und Soziologie um die Jahrhundertwende: Ge-
org Simmel, Frankfurt a.M. 1976,135-174. Eine Analogie zum Bildungs- und Ablösungsprozess
von Gehäusen findet sich auch in Wilhelm Diltheys erstmals 1911 erschienenem Aufsatz »Die
Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen« (in: Ge-
sammelte Schriften, Bd. VIII, hg. von B. Groethuysen, Stuttgart, Göttingen 6i99i, 75-139,84-87),
in dem Dilthey allerdings nicht von Gehäusen, sondern von »Weltanschauungen« spricht.
31 Diese Fußnote wurde erst in der zweiten Auflage eingefügt. Das Zitat entstammt dem Text
Ueber die Leidenschaft der Liebe, in: B. Pascal: Gedanken, Fragmente und Briefe, deutsch von
C. F. Schwartz, erster Theil, Leipzig 2i865, 111-125,117 (KJB Oldenburg: KJ 2530). Der zitierte
Text gilt heute nicht mehr als Schrift Pascals und ist entsprechend in neueren Ausgaben der
Gedanken nicht mehr enthalten.
32 NA: ergänzt, wenn das Allgemeine auch wieder in concreter Kasuistik gezeigt wird. Im ] EA:
ergänzt. Das Ergebnis ist also: wohl ist uns eigenes Erleben in der Bewegung des Widerspruchs,
zufälliges Erfahren und Beobachten in der Versenkung in Situationen und Sphären die un-
mittelbarste und wichtigste Quelle psychologischer Einsicht, aber Weite und Fülle für die Ver-
anschaulichung vermag erst die Masse ausgeprägter Persönlichkeiten und ihrer Werke zu ge-
ben, die uns nicht selbst, sondern nur indirekt als historisches Material gegeben sind. [ Im
33 Bei den Angaben »Schleiermacher« und »Winckelmann« handelt es sich um Verweise auf
biographische Werke: W. Dilthey: Leben Schleiermachers, 2 Bde., Bd. 1: Berlin 1870, Bd. 2: Schlei-
ermachers System als Philosophie und Theologie, aus dem Nachlass hg. von M. Redeker, Berlin
1966; C. Justi: Winckelmann, sein Leben, seine Werke und seine Zeitgenossen, 2 Bde. in drei Teil-
bänden, Leipzig 1866-1872.
34 Vgl. hierzu: Einleitung zu diesem Band, XLI-XLV.
35 Gemeint ist die französische Schriftstellerin Anne Louise Germaine, Baronin von Stael-
Holstein (1766-1817). Von Stael wurde u.a. durch ihre literaturkritischen Schriften bekannt.
Nachdem sie 1803 wegen ihrer Gegnerschaft zu Napoleon I. aus Paris verbannt worden war,
bereiste sie Deutschland und Italien und trat u.a. mit Goethe, Schiller, C. M. Wieland sowie
mit A. W. und F. Schlegel in Kontakt. Ihr in dieser Zeit entstandenes dreibändiges Werk
De l'Allemagne (Über Deutschland), in Frankreich 1810 auf Befehl Napoleons konfisziert,
erschien 1813 in London und prägte bis Ende des 19. Jahrhunderts maßgeblich das Deutsch-
landbild der Franzosen. Darüber hinaus stellte es die Weichen für den Einfluss der deutschen
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Jaspers und der Begriff des >Gehäuses<, in: H. R. Yousefi u.a. [Hg.]: Karl Jaspers. Grundbegriffe sei-
nes Denkens, Reinbek 2011,169-179). Eine Jaspers analoge Verwendung des Gehäusebegriffs fin-
det sich auch bei Georg Simmel, der von einem fundamentalen Gegensatz von Form und Le-
ben spricht. Die Gehäuse versteht Simmel als Erzeugnisse des Lebens, aber auch als das, »woran
es sich bricht, wodurch es vergewaltigt wird«. Ferner heißt es bei Simmel: »Hören wir dann aber,
wir sollen immer die rechte Mitte halten, oder unser Handeln als allgemeines Gesetz vorstellen
können, oder uns nach dem größtmöglichen Nutzen der größtmöglichen Zahl richten, [...] so
spüren wir vielleicht, daß zwar tiefe und inhaltreiche ethische Erlebnisse diese Formulierun-
gen gewissermaßen als ihre Silhouette entwickelt haben; nun aber stehen sie als feste Gehäuse
da und wollen das unendlich bewegte, unendlich differenzierte gesollte Leben in sich hinein
zwingen, das sie doch bald überflutet, bald unausgefüllt läßt« (G. Simmel: Lebensanschauung.
Vier metaphysische Kapitel, München, Leipzig 1918,162-163 [KJB Oldenburg: KJ 4307]; Georg Sim-
mel Gesamtausgabe, Bd. 16, hg. von G. Fitzi und O. Rammstedt, Frankfurt a.M. 1999,352-354).
Vgl. zum Einfluss Simmels auf Jaspers: H. Tennen: »Georg Simmel und Karl Jaspers - ein Ver-
gleich«, in: H. Böhringer, K. Gründer (Hg.): Ästhetik und Soziologie um die Jahrhundertwende: Ge-
org Simmel, Frankfurt a.M. 1976,135-174. Eine Analogie zum Bildungs- und Ablösungsprozess
von Gehäusen findet sich auch in Wilhelm Diltheys erstmals 1911 erschienenem Aufsatz »Die
Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen« (in: Ge-
sammelte Schriften, Bd. VIII, hg. von B. Groethuysen, Stuttgart, Göttingen 6i99i, 75-139,84-87),
in dem Dilthey allerdings nicht von Gehäusen, sondern von »Weltanschauungen« spricht.
31 Diese Fußnote wurde erst in der zweiten Auflage eingefügt. Das Zitat entstammt dem Text
Ueber die Leidenschaft der Liebe, in: B. Pascal: Gedanken, Fragmente und Briefe, deutsch von
C. F. Schwartz, erster Theil, Leipzig 2i865, 111-125,117 (KJB Oldenburg: KJ 2530). Der zitierte
Text gilt heute nicht mehr als Schrift Pascals und ist entsprechend in neueren Ausgaben der
Gedanken nicht mehr enthalten.
32 NA: ergänzt, wenn das Allgemeine auch wieder in concreter Kasuistik gezeigt wird. Im ] EA:
ergänzt. Das Ergebnis ist also: wohl ist uns eigenes Erleben in der Bewegung des Widerspruchs,
zufälliges Erfahren und Beobachten in der Versenkung in Situationen und Sphären die un-
mittelbarste und wichtigste Quelle psychologischer Einsicht, aber Weite und Fülle für die Ver-
anschaulichung vermag erst die Masse ausgeprägter Persönlichkeiten und ihrer Werke zu ge-
ben, die uns nicht selbst, sondern nur indirekt als historisches Material gegeben sind. [ Im
33 Bei den Angaben »Schleiermacher« und »Winckelmann« handelt es sich um Verweise auf
biographische Werke: W. Dilthey: Leben Schleiermachers, 2 Bde., Bd. 1: Berlin 1870, Bd. 2: Schlei-
ermachers System als Philosophie und Theologie, aus dem Nachlass hg. von M. Redeker, Berlin
1966; C. Justi: Winckelmann, sein Leben, seine Werke und seine Zeitgenossen, 2 Bde. in drei Teil-
bänden, Leipzig 1866-1872.
34 Vgl. hierzu: Einleitung zu diesem Band, XLI-XLV.
35 Gemeint ist die französische Schriftstellerin Anne Louise Germaine, Baronin von Stael-
Holstein (1766-1817). Von Stael wurde u.a. durch ihre literaturkritischen Schriften bekannt.
Nachdem sie 1803 wegen ihrer Gegnerschaft zu Napoleon I. aus Paris verbannt worden war,
bereiste sie Deutschland und Italien und trat u.a. mit Goethe, Schiller, C. M. Wieland sowie
mit A. W. und F. Schlegel in Kontakt. Ihr in dieser Zeit entstandenes dreibändiges Werk
De l'Allemagne (Über Deutschland), in Frankreich 1810 auf Befehl Napoleons konfisziert,
erschien 1813 in London und prägte bis Ende des 19. Jahrhunderts maßgeblich das Deutsch-
landbild der Franzosen. Darüber hinaus stellte es die Weichen für den Einfluss der deutschen