Metadaten

Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0070
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Herkunft der gegenwärtigen philosophischen Situation

9

gender.a Der Vergleich ist um so wichtiger, weil kein Einfluß von dem Einen zum An- ♦
deren gewesen sein kann;b 18 und weil ihre Verschiedenheit das Gemeinsame um so ♦
eindrucksvoller macht. Denn ihre Verwandtschaft, auf deren Grund ihre Verschieden-
heit in zweitrangiger Bedeutung gesehen werden kann, ist im Ganzen ihres Lebenswe-
ges und bis in Einzelheiten ihres Denkens so zwingend, daß die Notwendigkeit der geis-
tigen Situation ihres Jahrhunderts ihr Wesen hervorgebracht zu haben scheint. Mit
ihnen geschah ein Ruck des abendländischen Philosophierens, dessen endgültige
Bedeutung noch nicht abzuschätzen ist.
Das ihnen Gemeinsame ist ihr Denken und ihr Menschsein, beides in unlösbarem
Bezug auf den Augenblick dieses Zeitalters und von ihnen selbst so verstanden. Wir wol-
len ihr Gemeinsames daher vergegenwärtigen erstens in ihrem Denken, zweitens in der
Wirklichkeit ihrer denkenden Existenz, drittens in der Weise ihres Selbstverständnisses.
|Ihr Denken schafft eine neue Atmosphäre. Sie gehen über alle vor ihnen noch selbst- 14 ♦
verständlichen Grenzen hinaus. Es ist als ob sie vor nichts mehr im Gedanken zurück- ♦
schrecken. Alles Bestehende wird gleichsam verzehrt in einer schwindelerregenden
Bewegung durch die Saugkraft: bei Kierkegaard eines außerweltlichen Christentums,
das wie das Nichts ist und nur in Verneinung (dem Absurden, dem Märtyrersein) und
im negativen Entschluß sich zeigt; bei Nietzsche eines Vakuums, aus dem mit verzwei-
felter Gewaltsamkeit neues Sein sich gebären soll (die ewige Wiederkehr19 und die ent-
sprechende Dogmatik Nietzsches).
Beide haben die Vernunft aus der Tiefe der Existenz heraus in Frage gestellt. Noch
niemals ist der durchgehende Widerstand gegen die bloße Vernunft auf so hohem Ni-
veau faktisch vollzogener Denkmöglichkeiten so radikal gewesen. Diese Infragestel-
lung ist nirgends Vernunftfeindschaft - beide suchen vielmehr alle Weisen der Ver-
nünftigkeit sich grenzenlos anzueignen; sie ist nicht Gefühlsphilosophie - denn beide
drängen unablässig zum Begriff als Ausdruck; sie ist erst recht nicht dogmatischer
Skeptizismus - vielmehr geht ihr gesamtes Denken auf die eigentliche Wahrheit.
In geistig großartiger, den Ernst des Philosophierens ein Leben lang durchführen-
der Gestalt bringen sie nicht einige Lehren, nicht eine Grundposition, nicht ein Welt-

a | Für die Aneignung beider ist es von Bedeutung, sie gleichzeitig zu studieren, damit sie sich ge- 151
genseitig interpretieren. Was ihnen gemeinsam ist, ist das Wesentliche: die Rückkehr zur Existenz
des Menschen in dieser gegenwärtigen, abendländischen Situation.
b Für den dreißigjahre älteren Kierkegaard war der Einfluß nicht möglich, weil er schon 1855 ge-
storben ist; für Nietzsche nicht, weil er keine Zeile der damals schon vorhandenen deutschen Über-
setzungen je zu Gesicht bekommen hat. Es ist erregend zu sehen, wie Nietzsche im letzten Jahr
1888, von Brandes auf den Namen aufmerksam gemacht, plant, sich bei seiner nächsten Reise
nach Deutschland »mit dem psychologischen Problem Kierkegaard zu beschäftigen« (an Brandes
19.2. 88); es ist nicht mehr dazu gekommen, daß Nietzsche sich mit seinem einzigen Verwandten
hätte auseinandersetzen können.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften