Metadaten

Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0079
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
18

Vernunft und Existenz

in dem grenzenlosen Reflektieren werden ihm doch die ihn so tief befriedigenden, in
der Tat transzendenten Gehalte offenbar.
Beide also tun einen Sprung zur Transzendenz, aber zu einem Sein der Transzen-
denz, wohin ihnen in Wahrheit wohl niemand folgt: Kierkegaard zum Christentum,
aufgefaßt als absurde Paradoxie, als der negative Entschluß des völligen Weltverzichts
und als notwendiges Märtyrersein, Nietzsche zur ewigen Wiederkehr und zum Über-
menschen.
Daher kann uns gerade bei jenen Gedanken Nietzsches, die für ihn selbst die tiefs-
ten sind, eine Leere überfallen, bei Kierkegaards Glauben eine unheimliche Fremdheit
beschleichen. In den Symbolen von Nietzsches Religion, mit seinem Willen zur Im-
manenz - außer dem ewigen Kreislauf der Dinge: der Wille zur Macht; das Ja zum Sein;
die Lust: will tiefe, tiefe Ewigkeit65 - ist kein transzendenter Gehalt mehr, wenn man
sie unmittelbar hinnimmt. Nur auf Umwegen und mit Mühe ist aus diesen Symbolen
ein wesentlicher Gehalt interpretierend zu vergegenwärtigen. Bei Kierkegaard, der die
tiefen Formeln der Theologie neu beseelte, kann es wie die unerhörte Kunst eines viel-
leicht Ungläubigen erscheinen, sich zum Glauben zu zwingen.
Gerade bei der scheinbar völligen Wesensverschiedenheit der christlichen Gläu-
bigkeit des Einen und der betonten Gottlosigkeit des Anderen ist die Ähnlichkeit ih-
res Denkens um so kennzeichnender. In einem Zeitalter der Reflexion, das unter dem
27 Schein, als ob alles Vergangene | noch bestehe, in faktischer Glaubenslosigkeit lebt,
wird das Verwerfen des Glaubens und das Sichzwingen zum Glauben zu einander ge-
hörig. Der Gottlose kann gläubig, der Glaubende ungläubig erscheinen: beide stehen
in der gleichen Dialektik. -
Was sie in ihrem existentiellen Denken hervorbringen, hätten sie nicht ohne den
vollen Besitz der Überlieferung vermocht; beide sind erfüllt mit der auf die Antike ge-
gründeten Bildung; beide sind christlich fromm erzogen, ihre Antriebe sind undenk-
bar ohne die christliche Herkunft.66 Setzen sie sich gegen diese Ströme der Überliefe-
rung in der Gestalt, die sie in Jahrtausenden angenommen hat, auch leidenschaftlich
zur Wehr, so finden sie doch einen geschichtlichen, ihnen untilgbaren Halt in dieser
Herkunft; sie verbinden sich einem ihren eigenen Glauben erfüllenden Ursprung: Kier-
kegaard dem neutestamentlichen Christentum, wie er es versteht, Nietzsche einem
vorsokratischen Griechentum. -
Aber nirgends, weder in der Endlichkeit, noch in einem bewußt erfaßten Ursprung,
noch in einer bestimmt ergriffenen Transzendenz, noch in einer geschichtlichen Her-
kunft, ist der endgültige Halt für sie. Es ist, als ob ihr Dasein, weil ein die ganze Verlo-
renheit des Zeitalters bis zum Ende vollziehendes, darum zerbrechendes Dasein wäre,
in dessen Zerbrechen selbst eine Wahrheit kund würde, die ohne das nicht Sprache hätte.
Gewinnen sie auch die unerhörte Souveränität ihres Wesens, so doch zugleich da-
mit die ihnen verhängte weltlose Einsamkeit; sie sind wie ausgestoßen.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften