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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0124
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Wahrheit als Mitteilbarkeit

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ich wage, nicht weil ich übermütig nach Gefahr suche, sondern weil ich muß. Nur ein
sich blind haltendes Leben kann das ständige Wagnis sich verschleiern und in der Po-
larität von vermeintlicher Sicherheit und auszustehender, dann wieder vergessener
Angst bleiben. Wagnis ist es, das Mögliche bis zur höchsten Stufe sehen, es durch das Ri-
siko eigener Offenheit hervorzulocken trachten, aber mit der Verantwortlichkeit da-
für, welchen Menschen, und wie ich mir traue - und wissend, daß auf jeder Stufe Kom-
munikation nur inter pares möglich ist. Ich muß das Mißlingen und die Täuschung
als meine Schuld übernehmen, vielleicht als Krise, worin nun erst die gegründete Kom-
munikation erwächst, vielleicht als Ruin, dessen Sinn ich nicht begreife.
Wo das Umgreifende in jeglicher Gestalt gegenwärtig bleibt, der Kommunikations-
wille wahrhaft total sein kann, da steht Existenz vor der letzten Grenze, daß viele Wahr-
heiten sind im Sinn existentieller Unbedingtheit.
Diese Vielheit der Wahrheiten philosophisch anzuerkennen, könnte charakterlos
aussehen. Man wirft ein: Nur eine Wahrheit ist die Wahrheit, unbedingt, wenn nicht
für Gott, so für den Menschen; der Mensch kann sich nicht be|dingungslos einsetzen, 97
wenn er nicht seiner Wahrheit als der einzigen glaubt.
Dagegen ist zu sagen: Da es dem Menschen unmöglich ist, im Zeitdasein die Trans-
zendenz als erkennbaren Gegenstand, identisch für jedermann, wie ein Ding in der
Welt zu haben, so kann jede Weise der Einen Wahrheit als absoluter in der Welt in der
Tat nur geschichtlich sein: unbedingt für diese Existenz und gerade darum nicht all-
gemeingültig. Da es aber dem Menschen nicht unmöglich, sondern nur psycholo-
gisch unendlich schwer ist, in ganzem Einsatz die eigene Wahrheit durchzuführen un-
ter gleichzeitiger Anerkennung der Wahrheit des Anderen, die nicht Wahrheit für ihn
selbst ist, und unter gleichzeitigem Festhalten der Relativität und Partikularität aller
allgemeingültigen Wahrheit,178 so darf er der höchsten Forderung der Wahrhaftigkeit,
das nur scheinbar Unvereinbare doch zugleich zu vollziehen, nicht ausweichen. Die
Idee des Menschen kann nicht hoch genug geworfen werden, wenn nur das schlecht-
hin Unmögliche, das der Endlichkeit seines Zeitdaseins widerstreitet, gemieden wird.
Das empirisch Unwahrscheinliche, d.h. das wegen der Faktizität der durchschnittlich
zu beobachtenden Menschenartung Unwahrscheinliche, gilt nicht vor der Idee der
allbereiten Kommunikation, die im Ursprung des menschlichen Wesens möglich ist:
vor der empirischen Wirklichkeit verwandelt sie sich in die unendliche Aufgabe, de-
ren Grenze in der Verwirklichung nicht absehbar ist.
Wenn aber die Vielfachheit der Wahrheiten existentiell anerkannt wird, so liegt
der radikalste Abbruch der Kommunikation nahe. Doch der totale Kommunikations-
wille, einmal seines Weges inne, kann sich nicht preisgeben. Er hat ein Vertrauen zu
sich und zur Möglichkeit in der Welt, das wohl wieder und wieder enttäuscht werden
kann, aber nicht, um an seinem Grunde, sondern nur um an seiner | bestimmten Ver- 98
 
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