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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0190
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Wahrheit

129

den ist er für die Aneignung des überlieferbaren Gehalts gebunden an Autorität. In ihr
erwachsend öffnet sich ihm der Raum, in dem überall das Sein ihm entgegenkommt.
Ohne Autorität erwachsend kommt er zwar in den Besitz von Kenntnissen, wird er
zwar Herr des Sprechens und Denkens, bleibt er aber preisgegeben den leeren Möglich-
keiten des Raumes, in dem das Nichts ihn anstarrt.
Im Reifen wird dann dem Einzelnen der eigene Ursprung im Selbstdenken, in der
Selbsterfahrung gegenwärtig. Die | Gehalte der Autorität werden lebendig, soweit sie 42
seine eigenen geworden sind. Wo sie dieses nicht werden, bleiben sie fremd; gegen sie
tritt die Freiheit, die nur zuläßt, was in das Selbstsein verwandelt wird. Freiheit, die wurde,
indem sie Autorität ergriff, kann sich dann der Autorität (in bestimmten Erscheinun-
gen) erwehren. Durch Autorität zu sich gekommen wächst der Einzelne aus der Auto-
rität heraus. Es wird die Grenzvorstellung eines Menschen möglich, der, reif geworden,
ganz auf sich steht, des stets erinnernden, nichts vergessenden, aus tiefstem Ursprung
lebenden Menschen, der doch in weitester Sicht entscheidungsgewiß zu handeln und
tätig zu sein vermag, und der auf dem Grunde der Autorität, die ihn hervorbrachte,
sich selbst treu ist. In seiner Entwicklung brauchte er den Halt; er lebte aus der Ehr-
furcht und durch Bindungen; er stützte sich auf Entscheidungen anderer für ihn dort,
wo er noch nicht aus seinem Ursprung selbst entscheiden konnte. In der Stufenfolge
der Befreiung erwuchs ihm der Ursprung im eigenen Inneren zu entschiedener Kraft
und Helligkeit, bis er mit voller Bestimmtheit in sich die Wahrheit hörte, die er nun in
Freiheit selbst ergriff auch gegen die von außen fordernde Autorität. Freiheit ist ihm
die selbst ergriffene Notwendigkeit des Wahren geworden, Willkür überwunden; die
Autorität ist in seinem Inneren die Transzendenz, die durch sein Selbstsein spricht.
Aber diese Grenze des ganz allein auf sich stehenden, absolut freien Menschen ist
nicht endgültig zu erreichen. Jeder Einzelne versagt irgendwann, wird nie der ganze
Mensch. Daher kann der redliche Einzelne, welche Stufe der reif gewordenen Freiheit
er auch erklimmen mag, die Spannung seiner Freiheit zur Autorität nicht entbehren,
ohne auch den eigenen Weg ungewiß und schwankend zu fühlen. Die eigenen Frei-
heitsgehalte drängen auf Bestätigung durch Autorität, oder sie drängen zum Wider-
stand an der Autorität, an dem sich zu bewähren erst ein Zeichen ihrer möglichen
Wahrheit wird, ohne das sie von | beliebigen und zufälligen Antrieben nicht unter- 43
schieden wären. Die Autorität gibt entweder befestigende Kraft, oder sie gibt durch Wi-
derstand Form und Halt und verwehrt die Beliebigkeit. Grade wer sich selbst helfen
kann, will, daß Autorität in der Welt sei.
Und selbst dann, wenn viele Einzelne die echte Freiheit in Gemeinschaft erwerben
könnten, würde die überwältigende Mehrzahl bleiben, die auf diesem Wege der Frei-
heit doch nur der Ordnungslosigkeit und der Willkür ihrer Daseinsantriebe anheim
fallen würde. Daher bleibt in der Wirklichkeit der alle umfassenden Gemeinschaft not-
wendig die Autorität als die Gestalt der Wahrheit, die alle Wahrheit zu tragen bean-
 
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