Metadaten

Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0030
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Grundsätze des Philosophierens

27

Gemeinsam ist Indien und dem Abendland die absolute Transzendenz, das Finden
des Grundes über alles Weltdasein hinaus, die Freiheit des Menschen von der Welt
durch Bindung an ein schlechthin Ausserweltliches. Aber im übrigen ist eine radikale
Verschiedenheit: Der abendländische Schöpfergott wird erfahren im Ganzen der Welt-
verwirklichung durch äusserste Anstrengung um die Welt, daher in der geschichtli-
chen Teilnahme an der Welt und dann erst im Scheitern dieses Weltganzen. Die indi-
sche Transzendenz wird nicht erfahren durch menschliche Aktivität inbezug auf die
Gestaltung in der Welt, nicht im geschichtlichen Bewusstsein um den Gang der
menschlichen Dinge; sondern in Gleichgültigkeit gegen das endlose, an sich sinn-
fremde Weltgeschehen wird sie ergriffen durch die Anstrengung des Einzelnen um sein
Bewusstsein, seinen »Zustand«. Der Schöpfergott wird persönlich, die eigentlich indi-
sche Transzendenz bleibt unpersönlich.
Beide Weisen, der absoluten Transzendenz inne zu werden, vermögen gegenseitig
sich ihre Grenzen fühlbar werden zu lassen und vor den auf beiden Seiten spezifischen
Abgleitungen zu bewahren: Der Ausschliesslichkeitsanspruch des Gottesglaubens
durch Judentum und Christentum verfällt in seine doch immer von Menschen her-
vorgebrachte Gestaltung und in seine Bindung an weltliche Zwecke; er wird in solcher
Abgleitung von dem spekulativ unendlich tiefen indischen Transzendenzgedanken
als Maya durchschaut. Die Geschichts- und Weltlosigkeit des indischen Transzendie-
rens verfällt in unpersönliche Leere bis zu passiver Untätigkeit; es wird von der Wucht
des Glaubens an den persönlichen Schöpfergott zur Mitteilnahme an der Weltgestal-
tung aufgerufen, in deren Scheitern erst und nicht unter deren Umgehung die sonst
abstrakt bleibende Transzendenz wahrhaftig erfahren werden kann.
b. Die Wirklichkeit im Grundsatz: Gott ist. - Der Grundsatz weist auf Gott als die
Wirklichkeit schlechthin. Diese Wirklichkeit ist nicht schon im Denken des Satzes er-
griffen. Sein blosses Gedachtwerden lässt leer. Was in ihm gemeint wird, ist, wenn
überhaupt, allein fühlbar aus geschichtlicher Gegenwart im Transzendieren über die
Realität durch diese selber als die eigentliche Wirklichkeit.
Diese Wirklichkeit ist das Sein, das noch im Abbruch des Lebens, noch im Augen-
blick, wo die eigene Aktivität erlischt, noch im Scheitern dieses einzelnen Daseins das
Vertrauen lassen kann: es ist am Ende alles in Ordnung. Dieses Bewusstsein wäre im
Horizont innerweltlicher Zwecke, auch im Urteil über das Ganze der sichtbaren Ge-
schichte eine vorwegnehmende Täuschung. Denn in der Welt bleibt alles dem gren-
zenlosen Zweifel ausgesetzt und vieldeutig, bleibt das Schicksal des Einzelnen und des
Ganzen im Scheitern am Ende undeutbar. Weltdasein als solches wird immer wieder
Grund zur Verzweiflung oder zum trotzigen Standhalten vor dem Sinnlosen. Das als
widergöttlich Erscheinende zeigt sich so entschieden wie das, was als gottnahe an-
spricht, ohne dass auch dieses irgendwo Gott selber oder seine eindeutige Sprache
wäre.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften