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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0044
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Grundsätze des Philosophierens

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des jeweils gegenwärtigen Ganzen der Blick auf das reale Dasein unbefangen und der
Entschluss zum Guten seines zeitlichen Charakters des Suchens sich bewusst bleibt.
Dann kann der Urdualismus des Guten und Bösen unwahr werden, wenn er in allge-
meingiltigen Behauptungen inbezug auf konkrete Tatbestände, insbesondere im rich-
tenden Urteil über andere Menschen sich absolut setzt. Das Auge der Vernunft, geführt
durch Liebe, sieht nicht nur das Gesetz des Tages (das moralische und das ethische Ge-
setz), sondern auch die Leidenschaft zur Nacht (den Drang ins Nichts),27 nicht nur die
Liebe, sondern eine Verlorenheit sich verkehrender Liebe, sieht beide in ihrer radika-
len Trennung und trotzdem realen Bezogenheit. Dieser Vernunft wird offenbar, was
unüberwindbar in der Zeit ist: dass das metaphysisch Böse nicht nur Negation des Gu-
ten, nicht nur Nichtsein zu sein scheint, sondern dass es erscheint in dem unumgäng-
lichen Grundphänomen menschlichen Daseins, dass es eingewebt ist in den Teppich
des Lebens. Darum wird die Fixierung des Guten und Bösen in dem allgemein für alle
identisch Aussagbaren eng und lieblos. Das Gute ist nicht auflösbar in die moralischen
Gesetze, wenn es auch ohne sie sich nicht verwirklichen kann. Es ist nicht ohne die
durch Existenz getragene grenzenlose Bewegung der Vernunft. Die Wahrheit des Un-
bedingten, die sich durch umgreifende Vernunft erhellt, verwirklicht sich zwar nur in
der Kraft der für sich entschiedenen Wahl, aber auch zugleich in der Demut an der
Grenze. Erst die Offenheit für das Ganze der menschlichen Wirklichkeiten macht
zwingend fühlbar, dass das Menschsein im guten Handeln des unbedingten Einzelnen
noch nicht vollendet ist. Beides ist unlösbar in eins: das Unbedingte und das Ungenü-
gen des eigenen Unbedingten vor der Leidenschaft zur Nacht.
Daher darf kein Mensch sich der Unbedingtheit des Guten als eines Besitzes gewiss
sein. Er ist nur auf dem Wege. Um ihn in der Welt und in ihm selber liegen die Verstrik-
kungen, aus denen der in der Zeit nie aufhörende Aufschwung zum Guten geschehen
kann und in der Zeit unabschliessbar geschehen muss. Unabschliessbar vor allem
darum, weil der Aufschwung im isolierten Menschen nicht wahrhaftig bleiben kann.
Der Weg des Aufschwungs verlangt vom Menschen, die Realitäten der Welt nicht zu
umgehen, sondern zu ergreifen, durch sie hindurch, in ihnen und mit ihnen die Ver-
wirklichung zu vollziehen. In der Bindung an die Realitäten in mir und um mich er-
wachsen die Fragen, die für den Willen zum Guten keine endgültige Lösung finden.
Dass das Gute und Böse im Aussagbaren zweideutig wird, lässt nicht die Wahl er-
weichen, wohl aber die Zufriedenheit mit sich und das richtende Urteil über den an-
deren Menschen. Die Bescheidung vor dem Bösen stellt der Vernunft die nie zu voll-
endende Aufgabe.
Diese Bescheidung bedeutet aber nicht, dass der Grundsatz preiszugeben sei, die
Unbedingtheit sei allein Unbedingtheit des Guten. Es ist ein Irrtum, das Unbedingte
vor der Unterscheidung von gut und böse antreffen zu können. Dieser Irrtum ist der
ästhetischen und unverbindlichen Anschauung eigen. Im Blick auf das »Dämonische«
 
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