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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0059
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Grundsätze des Philosophierens

Die Heiligsten der Christen können versagen? Petrus, unter der Drohung der Hen-
kersknechte und der zudringlichen Frage der Magd, verleugnete dreimal Jesus: ich
kenne den Menschen nicht?58
Paulus und Augustin begriffen die Unmöglichkeit, dass der gute Mensch wahrhaft
gut sein könne? Wenn er gut handelt, muss er wissen, dass er gut handelt; aber dieses
Wissen ist der Beginn einer Selbstzufriedenheit und damit des Hochmuts0. Ohne Selbst-
reflexion keine menschliche Güte, mit Selbstreflexion keine schuldlos reine Güte.
Picoe zeichnete den Menschen aus der Idee, welche die Gottheit von ihm entwarf,
als sie ihn am Ende der Schöpfung in die Welt setzte:59 Gott machte den Menschen zu
seinem alles in sich vereinenden Spiegelbilde und sprach zu ihm: Keinen bestimmten
Sitz, kein besonderes Erbe haben wir dir verliehen. Alle anderen Wesen in der Schöp-
fung haben wir bestimmten Gesetzen unterworfen. Du allein bist nirgends beengt und
kannst dir nehmen und erwählen, das zu sein, was du nach deinem Willen zu sein be-
schliessest. Du selbst sollst, nach deinem Willen und zu deiner Ehre, dein eigener
Werkmeister und Bildner sein und dich aus dem Stoffe, der dir zusagt, formen. So steht
es dir frei, auf die unterste Stufe der Tierwelt herabzusinken. Doch kannst du dich auch
erheben zu den höchsten Sphären der Gottheit. Die Tiere besitzen von der Geburt an
alles, was sie jemals besitzen werden. In den Menschen allein streute der Vater den Sa-
men zu allem Tun und die Keime zu jeglicher Lebensführung.
PascaF sah zugleich Grösse und Elend der Menschen. Der Mensch ist alles und ist
nichts, er steht bodenlos in der Mitte zwischen Unendlichkeiten.60 Aus unversöhnba-
ren Gegensätzen gebildet, lebt er als unstillbare Unruhe, weder als versöhnte Mitte,
noch als ruhendes Mittleres. »Was für ein Hirngespinst ist der Mensch! Was für ein Un-
bild, welche Wirrnis, was für ein Ding des Widerspruchs, Beurteiler von allem, törich-
ter Erdenwurm, Ruhm und Auswurf des Universums ... Der Mensch übersteigt unend-
lich den Menschen... So unglücklich sind wir, dass wir eine Ahnung vom Glück haben.

a Die Heiligsten der Christen können versagen, im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Vdg. zu Diese Unbe-
fangenheit vor der Wahrheit lässt die Christen in ihren Legenden auch die heiligsten Menschen
so sehen, dass sie versagen können.
t> nach nicht, im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. Rembrandt hat diese Menschen gemalt (auf dem
Bild in Leningrad, das vor dem Kriege eine Zeit lang in Holland zu sehen war): das Antlitz des Pe-
trus im Augenblick der Verleugnung, unvergesslich einen Grundzug unseres Menschseins offen-
barend, die drohenden Gestapo-Henkersknechte, die wütig frohlockende Magd, den milden Blick
Jesu aus dem Hintergründe. ||
c nach könne, im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. Warum nicht?
d ist der Beginn einer Selbstzufriedenheit und damit des Hochmuts im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs.
Vdg. zu ist schon seine Selbstzufriedenheit und damit sein Hochmut
e nach Pico im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. von Mirandola im Jubel des noch christlichen Renais-
sancemenschen
f nach Pascal im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. in der Qual christlichen Sündenbewusstseins
 
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