Metadaten

Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0074
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Grundsätze des Philosophierens

71

heit alles Gegenständlichen) doch von alles entscheidendem Ernst sein. Aber als Men-
schen in unserer Welt drängen wir doch immer wieder auf Stützpunkte unserer
Gewissheit in einer Anschaulichkeit. Die für uns in der Welt höchste Anschaulichkeit
ist die Kommunikation von Persönlichkeit zu Persönlichkeit. Daher wird der Bezug auf
Transzendenz - wenn wir entsprechend unserer sinnlichen Endlichkeit das Ungemässe
vollziehen - anschaulich gegenwärtig in der Begegnung mit dem persönlichen Gott.
Die Gottheit wird gleichsam zu uns herangezogen in ihrem Aspekt des Persönlichseins,
und zugleich steigern wir uns zu einem Wesen, das mit diesem Gotte sprechen dürfe.
Die äusserste Realisierung und zugleich Verkehrung3 solchen Scheins der Anschauung
findet statt in einer Menschwerdung der Gottheit oderb Vergötterung eines Menschen.
Der Vollzug der Begegnung mit dem unsichtbaren persönlichen Gotte heisst Gebet.
Die Weise des Gebets charakterisiert den Glauben oder Aberglauben des Menschen: von
der stillsten, sprachlos werdenden Kontemplation über die Leidenschaft des Suchensc
der Hand des persönlichen Gottes bis zum Anruf dieses Gottes für Zwecke des Daseins-
begehrens.
In der Welt wollen die Mächte uns beherrschen, die uns zu Boden werfen: die
Furcht vor der Zukunft, die angstvolle Bindung an den gegenwärtigen Besitz, die Sorge
um alles, was für den Blick in den Bereich der Möglichkeit tritt. Demgegenüber kann
der Mensch, in Gott geborgen, angesichts des Todes ein Vertrauen gewinnen, das noch
im Äussersten, Undeutbaren, Sinnfremdesten doch in Ruhe sterben lässt. Die Grund-
haltung in der Führung durch Gott wird dann am Ende aller Bewegung, aller Unruhe,
alles unendlichen0 Mühens: »Dein Wille geschehe.«74
Das Vertrauen zum Seinsgrunde kann als zweckfreier Dank, als Jubel im Glauben
an Gottes Sein sich aussprechen.
In der höchsten Not wie in dem schlichten Alltag kann keine rechte Bitte an Gott
sich richten auf Daseinszwecke und Interessen eines parteilichen Kampfwillens. Wenn
vor dem Äussersten sich in uns regt, was in einem »Gott hilf mir«75 Ausdruck sucht, so
bedeutet dieser Ruf nicht Bitte um Hilfe von aussen, sondern um Hilfe durch die Kraft
der Klarheit des Selbstseins. Ich will erinnert sein an den Entschluss der Existenz, die
ich werde, und an das Wesentliche. Gott hilft dem Menschen entscheidend nicht von
aussen, sondern zuletzt allein durch die Freiheit des Menschen selber. Dieser Sinn wird
aus der Ironie des Nihilismus verkehrt in den bösartigen Satz: »Hilf dir selbst, dann
wird auch Gott dir helfen.« Das Bösartige liegt im »dann«; denn Gott hilft vielmehr

a und zugleich Verkehrung im Vorlesungs-Ms. 1945/46 gestr.
b nach oder im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. - in völliger Verkehrung - durch
c nach Suchens im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. nach
d unendlichen im Vorlesungs-Ms. 1945/46gestr.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften