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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0138
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Grundsätze des Philosophierens

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1) Vom fliessenden, in ständig sich verwandelnden Bedeutungen sich bewegenden
Anschauen geht der Weg zum bestimmten, unterscheidenden, die Bedeutung im Be-
griff fixierenden Wissen: er geht vom Mythos zum Logos.
2) Von blosser Überzeugung in einem meinenden Glauben geht der Weg zum zwin-
genden Wissen. Was rational eingesehen wird, ist für den, der die Gründe (der Erfah-
rung und des Schliessens) versteht, ohne Zweifel richtig und gewiss. Jeder Verstand,
unabhängig von Mensch und Situation, von Zeitalter und Kultur, kann diese zwin-
gende Evidenz erfahren, sofern er nur als Verstand geschult ist. Wissenschaftliche Er-
kenntnis ist allgemeingiltig.
3) Das zwingend Gewisse liegt begründet in der Methode. Von zufälliger Erfahrung
und dem Denken ad hoc geht der Weg zum methodischen Denken, vom Meinen und
Behaupten und fraglosen Hinnehmen zum Wissen mit dem Wissen von dem Wege,
auf dem es gewonnen und bewiesen ist. Damit wird ein grenzenloser Raum für die For-
schung eröffnet. Zugleich wird eine Kritik möglich, die mit dem Wissen auch den Sinn
und die Grenzen des jeweiligen Wissens und des Wissens überhaupt erfasst.
Solche Charakteristik von Wissenschaft vergewissert nur abstrakt ihre allgemeinen
Züge: Die Sauberkeit des Rationalen ermöglicht die Bestimmtheit des Wissens, mit ihr
die Allgemeingiltigkeit und den Anspruch darauf. Die Methode fordert Aufhebung
von Widersprüchen; denn was widersprechend ist, kann für die Wissenschaft nicht
richtig sein. Damit ist die Systematik gefordert, denn nur wenn alles mit allem in Be-
ziehung gesetzt wird, können verborgene Widersprüche ans Licht kommen.
Concret nimmt die Wissenschaft in ihrer Geschichte mehrere Gestalten an. Sie
geht ihren Weg durch eine Reihe von Stufen.
1) Die Rationalität überhaupt ist schon im mythischen Denken gegenwärtig, wenn
Bedeutungsfixierungen und Ordnungen geschehen. Wo der Mensch spricht, denkt er
auch schon. Diese universale Rationalität nennt man zumeist noch nicht Wissen-
schaft.
2) Die natürlichen Erklärungen setzen sich gegen die mythischen Erklärungen.
Nicht Erzählung von Geschichten, sondern eine allgemeine Kausalität soll die Dinge
und Geschehnisse begreiflich machen.
3) Eine Ordnung der Erkenntnisweisen wird sich der Mannigfaltigkeit der Metho-
den der Rationalität überhaupt bewusst und gibt allen Weisen des Denkens, des Erken-
nens, der Gegenständlichkeit je nach Bedeutung ihren Ort.
Diese Gestalten von Wissenschaft gehen durch die Jahrtausende, sind ähnlich in
China, in Indien, im Abendland. Etwas anderes und neues aber ist die moderne Wis-
senschaft, die nur im Abendlande erwachsen ist und von hier aus die Welt sich erobert,
indem sie das Seinsbewusstsein des Menschen durch Wissen und Können bis in die
Wurzeln zur Verwandlung zwingt.
 
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