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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0140
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Grundsätze des Philosophierens

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zelnen Coincidenzen rein klinischer Beobachtungen stattfinden, die, als sie nach dem
Vergessen von Jahrtausenden wiederentdeckt wurden, fälschlich auf Verwandtschaft
der Wissenschaft wiesen.111
Die griechischen Wissenschaften sind vielfältig, nebeneinander. Sie erwachsen ei-
ner interessierten Beschäftigung mit Wirklichkeiten in der Welt im Rahmen einer je-
derzeit vollendeten Gesamtvorstellung. Der Grieche kennt nicht die grenzenlos fort-
schreitende universale Wissenschaft, in der alle Einzelwissenschaften Funktionen
sind, sondern er bleibt gebunden an seine Vollendung im Ganzen; diese Ganzheiten
sind bei ihm systematische Ordnungen, welche als Einheitsbildungen vielmehr ab-
schliessen als vorwärts treiben. Selbst seine Forschung hat noch im Voranschreiten
immer den Charakter eigentlichen Fertigseins. Ihm eignet nicht die Universalität und
nicht die ständige Sprungkraft der modernen Wissenschaft, die ihren grossartigen
Gang in ständiger Krise des Ganzen und der Grundlagen geht, sondern ihn lähmt im
wissenschaftlichen Fortschreiten die Totalität seiner Wissensweise.
Das griechische Denken ist zwar kritisch; es kennt die zweifelnden Reflexionen. Aber
in den griechischen Wissenschaften ist dieser Zweifel als konkrete Kritik selten durch-
schlagend. Diesen kritischen Reflexionen scheint die sprengende Eeidenschaft des
Wahrheitswillens inbezug auf die bestimmte Wirklichkeit zu fehlen. In der Philosophie
zwar betritt der Grieche die äussersten Grenzen, versucht in der Praxis des hebens das
Radikale, aber in seinen Wissenschaften wirkt er vergleichsweise befangen. Jenes Äus-
serste im griechischen Philosophieren wirkt auf uns wie ein Ausweichen ins Abstrakte,
während das Radikale in den Wissenschaften sich für den modernen Menschen bei un-
erhörtem Wagnis des Gedankens doch gerade bindet an das erfahrbar Reale. Die griechi-
schen Wissenschaften scheinen in ihren grössten Erscheinungen wie ein glückliches,
manchmal einmaliges Gelingen. Sie wirken wie das gelassene Spiel einer Erkenntnis be-
sonderer Dinge seitens einzelner persönlich überlegener Menschen, die sich eine Ruhe
parteilosen Zusehens erworben haben und dazu die geistige Disciplin in der Formung
ihres Werks zu einem in Klarheit und Ordnung gesteigerten Kunstwerk der Sprache und
der Gedankenstruktur. So scheint es bei Thukydides, Euklid, Archimedes.
Da der griechischen Wissenschaft durchweg der Charakter der Vollendung und da-
mit des Fertigseins zukommt, fehlt ihr das Suchen ohne Vollendung, die Offenheit ins
Unendliche hinein. Sie bleibt im Anschaulichen, im Massvollen, im Verständigen,
aber sie wagt nicht, wie die moderne, sogar das zunächst absurd Erscheinende, wie
etwa die Erkenntnis der Natur mittelst einer unanschaulichen Mathematik, wagt nicht
im Zusammenhang wirklich vollzogener empirischer Forschung die Infragestellung
schliesslich aller Selbstverständlichkeiten.
bb. Antriebe im Ursprung moderner Wissenschaft: le näher man sich mit dem Geist
und mit der Wirkung griechischer Wissenschaft beschäftigt, desto grösser wird in der
Tat der Abgrund zwischen ihr und moderner Wissenschaft. Das ist ein des Nachden-
 
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