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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0141
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Grundsätze des Philosophierens

kens würdiger Tatbestand; denn man darf hoffen, durch ihn des Wesens moderner
Wissenschaft bewusster zu werden. Es könnte sein, dass der Unterschied der griechi-
schen und modernen Wissenschaft auf der Verschiedenheit der Antriebe beruht, aus
denen Wissenschaft gesucht wird. Dass den Griechen, den Begründern von Wissen-
schaften, doch die eigentlich universale Wissenschaft ausblieb, muss einen Grund ha-
ben, der selber ausserhalb der Wissenschaft liegt.
Nietzsche hat die Bemerkung gemacht, dass der moralische Antrieb des Christen-
tums den grenzenlosen Wahrheitswillen bewirkt habe, der Wahrheit unbedingt will,
und der sich am Ende gegen das Christentum selber, gegen die Unwahrheit im Chri-
stentum wendet: »auch wir Erkennende von heute, wir Gottlose und Antimetaphysi-
ker, nehmen unser Feuer noch von dem Brande, den ein Jahrtausende alter Glaube
entzündet hat.«112 Wie die moderne Wissenschaft in ihrem Ursprung mit Gott zu tun
gehabt haben könne - und von daher Antriebe sogar noch im gottlos gewordenen mo-
dernen Menschen bewahre -, das bedarf einer näheren Vergegenwärtigung.113
Der Grieche erkennt den Kosmos als das Vollkommene und Geordnete, er erkennt
das Vernünftige und Gesetzmässige; das Andere ist ihm nichts, ist Materie, pi] öv, nicht
wissbar und nicht wissenswert.114 Wenn dagegen die Welt die Schöpfung Gottes ist,
dann ist alles, was ist, als Schöpfung Gottes auch wissenswert, nicht nur das Vernünf-
tige, nach Mass und Zahl Gewusste, sondern jedes Erfahrbare, dann erfolgt die liebe-
volle Versenkung in alle Besonderheit der Erscheinung, dann gibt es nichts, was nicht
gekannt und gewusst werden müsste - Gott ist als Schöpfer nach Luthers Wort auch
im Darm einer Laus gegenwärtig.115 Der Grieche bleibt vor der Weite der möglichen Er-
fahrung stecken in geschlossenen Weltbildern, in der Schönheit seines gedachten Kos-
mos, in der logischen Durchsichtigkeit des gedachten Ganzen; er lässt sich entweder
alles in subsumierenden Schematen von Stufen und Ordnungen gruppieren, oder er
lässt durch Syllogismen das Gedachte sich in Zusammenhänge schliessen, oder er be-
greift ein ewiges gesetzliches Geschehen. Nicht nur Aristoteles und Demokrit, sondern
auch Thomas und auch Descartes gehorchen diesem wissenschaftslähmenden grie-
chischen Antrieb zur geschlossenen Gestalt.
Ganz anders der neue Antrieb, der sich dem All des Geschaffenen ohne Grenze of-
fen halten will. Aus ihm drängt das Erkennen gerade auf dasjenige Wirkliche, das mit
den bis dahin gefundenen Ordnungen und Gesetzen nicht stimmt. Im Logos selbst er-
wächst der Drang, sich ständig zum Scheitern zu bringen, aber nicht um sich preiszuge-
ben, sondern um sich in neuer, erweiterter, erfüllterer Gestalt zurückzugewinnen. Diese
Wissenschaft entspringt dem Logos, der sich nicht in sich schliesst, sondern dem Alogon
aufgeschlossen in dieses selbst eindringt dadurch, dass es sich ihm unterwirft. Die stän-
dige - nie aufhörende - Wechselwirkung zwischen Entwurf der theoretischen Construk-
tion und experimenteller Erfahrung ist das einfache und grosse Beispiel und Symbol die-
ses universalen Processes aus der Zündung zwischen dem Logos und dem Alogon.
 
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