Metadaten

Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0155
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
152

Grundsätze des Philosophierens

weiteren Begriff, und diesen kann, sofern keine Verwechslung eintritt, die Wissen-
schaft selber anerkennen als nicht zu ihr gehörig, aber aus anderem Ursprung gerecht-
fertigt.
Wissenschaft in diesem weiteren Sinne heisst jede auf rationalem Wege durch Be-
griffe entstehende Klarheit. Der Gedanke vermittelt dann nicht Erkenntnisse mir bis
dahin fremder Sachen, sondern er macht deutlich, was ich eigentlich meine, eigent-
lich will, eigentlich glaube; er schafft den hellen Raum meines Selbstbewusstseins.
Der Gedanke kann weiter eine Form sein, deren innerliche Erfüllung aus meinem
Wesen heraus erst seine Wahrheit im Gedachtwerden ausmacht (wie in den spekula-
tiven Gedanken der Philosophie).
Der Gedanke kann schliesslich eine Chiffer sein, die deutend verbirgt.127
Diese grossartigen und lebenbegründenden Bemühungen des Denkens sind Wis-
senschaft nur im Sinne einer Strenge höchster Klarheit. Sie sind mehr und zugleich
weniger als Wissenschaft. Mehr: sofern sie ein schaffendes, den Menschen verwan-
delndes Denken sind. Weniger: sofern sie nichts Festes als ein Wissen in die Hand ge-
ben. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, den engeren Begriff von Wissenschaft
deutlich zu haben. Ihn allein meint im Grunde, wenn auch zumeist undeutlich, der
moderne Mensch, wenn er von Wissenschaft spricht, weil nur hier die Wahrheit für
den Verstand überhaupt als das Zwingende und als das Allgemeingiltige - ohne Ein-
satz meines Wesens - vorliegt. Und es ist andererseits erst mit der Klarheit dieser ei-
gentlichen Wissenschaft auch möglich, dass die Philosophie in dem unersetzlichen
Sinn ihres Denkens, der Art ihrer Wahrheit, der Unerlässlichkeit ihres Tuns klar wird.
Erst mit der Wissenschaft gewinnt, im Unterscheiden von ihr, die Philosophie ihre vol-
len Möglichkeiten.
bb. Grenzen der Wissenschaft.128 - Die unüberschreitbaren Grenzen der Wissen-
schaft im engeren Sinne sind folgende:
Wissenschaftliche Sacherkenntnis ist nicht Seinserkenntnis. Denn wissenschaftli-
che Erkenntnis ist partikular, auf bestimmte Gegenstände, nicht auf das Sein selbst ge-
richtet. Wissenschaft bewirkt daher philosophisch grade durch Wissen das entschie-
denste Wissen um das Nichtwissen, nämlich um das Nichtwissen dessen, was das Sein
selbst ist.
Wissenschaftliche Erkenntnis vermag keinerlei Ziele für das Leben zu geben. Sie
stellt keine gütigen Werte auf. Sie kann als solche nicht führen. Sie verweist durch ihre
Klarheit und Entschiedenheit auf einen anderen Ursprung unseres Lebens.
Wissenschaft vermag auch keine Antwort zu geben auf die Frage nach ihrem eige-
nen Sinn. Dass Wissenschaft da ist, beruht auf Antrieben, die selbst nicht mehr wis-
senschaftlich als wahre und seinsollende bewiesen werden können.
Die Grenzen der Wissenschaft haben immer dann die tiefste Enttäuschung bewirkt,
wenn man von der Wissenschaft erwartet hatte, was sie zu leisten ausserstande ist.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften