Metadaten

Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0174
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Grundsätze des Philosophierens

171
Die Wahrheit aller Versuche, das Leben als eine Weise des Mechanismus des Leb-
losen zu begreifen, liegt darin, dass das Material des Lebens bis in die letzte Verzwei-
gung der Sichtbarkeit Gegenstand der Physik und Chemie ist, nicht anders als das Leb-
lose. Es gibt keinen Ort, keinen Stoff, kein atomares Geschehen, wo man das Leben
fände. Die Auffassung des Mechanismus behält immer Recht, wenn der Vitalismus das
Leben irgendwo als etwas Specifisches im Stoffe selber einfangen will.
Der Irrtum sowohl des Vitalismus wie des Mechanismus ist, das Leben im Ganzen auf
einmal durch eine Objektivierung grundsätzlich begreifen zu wollen, der Vitalismus in
Beschränkung auf das Leben, der Mechanismus im Blick auf das Naturganze. Ein Antrieb
ist der Gedanke der Einheit der Natur. Der Irrtum ist die Selbstverständlichkeit, mit der
man die Einheit des Lebens in der Einheit der Natur als vorhanden ansieht. Die Anerken-
nung dieser Einheit wird als Forderung fast der gesunden Vernunft und Moral angesehen.
Das Leben sei doch auch Materie, sei Körper in Raum und Zeit; die Seele sei doch
auch Leben. Die Natur sei ein Ganzes. Die Seele sei in allem Lebendigen; das Leben wur-
zele im Leblosen; das Leblose selber berge in sich schon irgendwie Leben. Die Sprünge
seien ein Schein; in der Tat gebe es Übergänge, zwischen Leblosem und Leben, zwischen
allen Weisen des Lebendigen, zwischen Leben und Seele.
Überall sind unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Natur die Zwischenglieder
Gegenstand hohen Interesses: die Zwischenglieder zwischen Pflanze und Tier, zwi-
schen Reptilien und Vögeln, zwischen dem Menschen und seinen tierischen Vorfah-
ren, für unsere gegenwärtige Frage: zwischen dem Leblosen und dem Lebendigen
(heute gilt als Zwischenglied das Virus; es ist kristallisierbar wie ein chemischer Stoff,
aber Viren haben die Eigenschaft der Vermehrung auf Kosten anderer, allerdings nur
lebendiger Substanz, sind Ursache ansteckender Krankheiten; doch sind sie nicht auf
leblosem Boden, wie Bakterien, zu kultivieren, entbehren des Stoffwechsels, der Ge-
schlechtlichkeit, der Zellbildung). Diese Zwischenglieder bedeuten zwar jedesmal eine
Erweiterung unserer Kenntnis der Naturgestalten, doch sie sind fragwürdig, wenn sie
als »Übergänge« interpretiert werden. Es ist etwas in Continuität - die Materie -, aber
in der Continuität, auf ihr gleichsam aufgelagert, ihrer bedürfend, aber aus ihr nicht
begreiflich, gibt es die Gestaltungen in sprunghaften Unterschieden. Wo Zwischen-
glieder auftreten, steht die Definition des Menschen, des Tiers, des Lebens erneut zur
Frage. Deren Definition ist für unser Wissen nicht abgeschlossen. Aber gerade die
neuen Hinweise auf Continuitäten und damit auf die Einheit des Ganzen gehen ein-
her mit neuen Offenbarungen der Art der sprunghaften Unterschiede.
Die Einheit der Natur ist kein Gegenstand der Erkenntnis. Die Idee allseitiger Bezüge
zwischen den Erkennbarkeiten lässt zwar ins Grenzenlose nach Zusammenhängen for-
schen. Aber die Idee erscheint in der klaren Heterogenität der erkennbaren Natur-
gegenstände. Die Einheit ist die Illusion am Anfang, ist Stimmung und bleibt Idee. Aber
gerade das Pathos der Einheit ist verdächtig. Die vermeintlich erkannte Einheit wird
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften