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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0209
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Grundsätze des Philosophierens

werbbare Erkenntnis zu haben, suchen und finden wir ins Unendliche hinein syste-
matische Einheit durch Zusammenhänge der Formen und der Gesetze des Naturseins.
In den Weltbildern sind vor und nach Kant trotzdem Entwürfe des Weltganzen ge-
macht worden: Die eine grosse Weltordnung des Mittelalters mit Himmel, Erde und
Hölle, der Hierarchie der Naturgestalten, diese kunstvolle Architektonik, in deren Geo-
graphie alles seinen Platz hat; - der Weltmechanismus der neueren Jahrhunderte, der aus
sich selbst in seinem gesetzlichen Ablauf als begreiflich gilt, nachdem er einmal im An-
fang von Gott geschaffen oder weil er von jeher da ist, diese Weltmaschine, die in wun-
derbarer Regelmässigkeit läuft, ohne bedient zu werden, ohne Reparaturen. Man hat ge-
stritten, ob die Welt aus einem Princip sei, oder aus zweien oder aus vielen (und sprach
von Monismus, Dualismus, Pluralismus), oder ob sie ein Ganzes sei, aus dem jene Mög-
lichkeiten zugleich begreifbar wären (Holismus).154 Alle diese Versuche lassen sich logisch
verstehen als Verabsolutierung einzelner Kategorien, die bei der Auffassung von Realitä-
ten in der Welt gelten, aber zur Auffassung der Welt überhaupt, als ob man ausserhalb
stehe und sie gleichsam mit einem Griffe in ihrem Wesen fassen könnte, untauglich sind.
Wir retten aber das Sein für uns nur, wenn wir das Umgreifende nicht verlieren, in
dem uns die Erkennbarkeiten vorkommen. Dann ist die Ungeschlossenheit der Natur
zugleich die Offenheit des Seins selbst. Doch immer wieder verführen besonders die
Befunde universalen Charakters, wie Einsichten in das Wesen der Materie, des Lebens,
des Bewusstseins dazu, statt concrete Erkenntnis partikularer Aspekte der Seinserschei-
nung zu bleiben, zu vermeintlicher Totaleinsicht in das Sein ausgeweitet zu werden.
Jedesmal erliegen dieser Verführung solche universalen Perspektiven, wenn sie erst-
malig auftreten: jetzt habe man das Sein im Grunde erkannt, das Ganze, das Allum-
greifende. Aber immer ist es eine Verkehrung, das Umgreifende als ein reales Gesche-
hen vor Augen zu bringen oder ein reales Geschehen als das Umgreifende aufzufassen.
Niemals wird das Umgreifende selber Gegenstand, sondern ist da nur gleichsam als
Raum, als Tiefe, als Führung zum Seinsgrund.
In dem Erkennen der Natur aber wird giltig bleiben die Trennung der Realitäten
ebenso wie das Suchen ihrer Bezüge, das fortschreitende Unterscheiden und zugleich
das Suchen von Einheiten, beides ins Unendliche hinein.
Wir untersuchen einige Beispiele des Bemühens um das Erfassen der Einheit der
Natur, um den Sinn und dann deren Grenze und schliesslich ihr Unwahrwerden zu
begreifen.
aa. Die Einheit der Natur durch mathematische Ordnung:155 Die grossartigste, für
die Erkenntnis ergiebigste Einheit der Natur ist ihre Mathematisierbarkeit. »Gott hat
alles nach Mass und Zahl geordnet.«156 Was in Raum und Zeit ist, ist messbar und zähl-
bar. Diese Realität wird durch mathematische Gebilde erfasst. Die mathematischen
Gebilde aber werden losgelöst ohne Begründung durch Erfahrung vom menschlichen
Geiste in ihrer reinen Idealität zeitlosen Bestehens, in diesen möglichen Ordnungsver-
 
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