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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0210
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Grundsätze des Philosophierens

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hältnissen von Mannigfaltigkeiten ergriffen. Das mathematische Naturbild ist ausge-
zeichnet erstens durch Exaktheit (d.h. die Genauigkeit, die allein durch Messen und
Zählen möglich ist), damit zweitens durch einen einzigartigen methodischen Fort-
schritt der Forschung, drittens durch Universalität. Wissenschaft, meinte Kant, reicht
nur soweit wie Mathematik reicht.157
Ist aber die Mathematik auch das wirksamste Instrument der Forschung und das ma-
thematisch gestaltete Naturwissen das universalste, so ist die dadurch erkennbare Natur
doch ein begrenzter Ausschnitt des realen Naturseins. Dem mathematischen Naturbilde
geht verloren, was wir ursprünglich und unmittelbar Natur nennen, was wir als Natur er-
leben und qualitativ erfahren. Es begreift die Natur nur nach ihren quantitativen Seiten
und in den Zuordnungen des Qualitativen zum Quantitativen. Es ist begrenzt auf das Leb-
lose und auf das, was in den anderen Stufen wie Eebloses aufgefasst werden kann. Auch
noch im Eeblosen entzieht sich der Mathematik das Qualitative als solches, das Gestalt-
hafte, das nicht in die immer einfachen Ordnungen der Mathematik einzufangen ist.
bb. Die Einheit der Natur auf Grund der Atomphysik: Der Realitätsbegriff der Atom-
physik, so wurde berichtet, ergreift die Materie nicht mehr in anschaulichen kleinsten
Teilchen, sondern in einem unanschaulichen, nur mathematisch Denkbaren, das,
wenn es als anschaulich in Erscheinung tritt, complementär als Korpuskel und als
Welle gedacht werden muss. Die Ergebnisse der modernen Physik haben dazu geführt,
dass zwar die Atome entschiedener als je Realitäten sind, aber als Korpuskel und Welle
nicht an sich, sondern nur in bestimmten Erscheinungszusammenhängen existieren.
Aus der unanschaulichen Realität letzter Teilchen (Elektronen, Protonen, Neutronen
usw.; die Zahl und Art dieser letzten Urteilchen ist noch nicht endgiltig erkannt) wird
das periodische System der 92 Elemente begriffen, aus deren Verbindungen sich die
chemischen Stoffe aufbauen. Es gibt nun zweierlei Chemie: die neue Chemie des Auf-
baus der Elemente aus letzten Teilchen, die alte Chemie des Aufbaus der Stoffe aus den
Elementen. Noch ist zwar nicht eine methodische Synthese der Elemente möglich,
wie eine Synthese der Stoffe, sondern nur teilweise eine Atomzertrümmerung, also Ab-
bau der Elemente, und dabei die Beobachtung von Synthesen. Die Vorgänge der Bil-
dung der Elemente aus den Urteilchen sind grundsätzlich andere als die Bildung der
Moleküle aus Elementen. Aber der Zusammenhang aller Elemente, im periodischen
System seit langem erwartet, ist nun bewiesen. Eine Reihe von Eigenschaften der Ele-
mente sind theoretisch vorauszusehen aus der Erkenntnis der letzten Teilchen, das pe-
riodische System der Elemente ist begreifbar geworden.
Diese Erkenntnisse haben zu einer neuen Einheit des physikalischen Weltbildes ge-
führt, derart, dass nun auch Physik und Chemie, die bis dahin getrennte Wege gingen
(wenn auch ihr Grenzgebiet, die physikalische Chemie [,] methodisch reich entwickelt
war) [,] in der Sache selber zu einer einzigen grossen Wissenschaft zu werden scheinen.
Es ist der bisher letzte Schritt einer Vereinheitlichung. Es begann mit der Erkenntnis
 
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