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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0226
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VI. Teil'
Geschichte und gegenwärtige Situation

Welt ist für uns zunächst und vor allem die Menschenwelt. Sich in der Welt zurecht-
finden, heisst, sich in der Menschenwelt zurechtfinden. In dieser Welt ist die Natur,
wie sie durch den Menschen in gemeinschaftlicher Arbeit, Erkenntnis, Gestaltung für
ihn geworden ist; reine Natur, wie sie Thema des vorigen Abschnitts war, ist die Grenze,
die, so wie sie erfahrbar und auffassbar wird, selber noch durch die jeweilige Men-
schenwelt bestimmt ist. Zur Menschenwelt gehört das gesamte für den Menschen ge-
staltete Dasein, gehören darin die arbeitstechnischen, wirtschaftlichen, sociologi-
schen, politischen Ordnungen, die Gebilde der Kunst und Erkenntnis, die Bindung
durch den religiösen Glauben. Solche Welten werden anschaulich in den sogenann-
ten kulturgeschichtlichen und sociologischen Schilderungen der Zeitalter (wie Burck-
hardts Renaissance).170
Die Menschenwelt ist das jeweilige Ganze einer Zeit, in dem dies alles zusammen-
hängt. Dieses Ganze scheint jeweils einen Bestand und für die darin Lebenden zumeist
den Charakter eines dauernden Bestands zu haben. Sein Wesen aber ist es, nur als Ge-
schichte, als Werden und Veränderung, da zu sein. Die Menschenwelt ist Geschichte.
Sie hat keinen dauernden, sich nur wiederholenden Zustand, sondern steht in der Be-
wegung eines unablässigen, stillen oder plötzlichen Sichverwandelns im Ganzen.
Die Menschenwelt oder die Geschichte umfasst daher nicht nur das jeweilige Ganze
dieser Welt im Querschnitt einer Zeit, sondern das Ganze in der Zeitfolge seiner Ver-
wandlungen durch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Realer Gegenstand der
Erforschung ist zwar nur das schon Geschehene und gegenwärtig Verwirklichte, die
Vergangenheit. Gegenstand der geschichtlichen Besinnung ist aber zugleich die ge-
genwärtige Situation des Menschen auf seinem Wege durch die Zeit, und die Perspek-
tive in eine mögliche Zukunft. Im Wissen vom Vergangenen spiegelt sich gegenwär-
tige Erfahrung und zeigen sich zukünftige Möglichkeiten.
Gegenwart, wie sie erfahren wird, kann daher nichts oder alles sein. Nichts wird sie
als der verschwindende Übergang zwischen Vergangenheit und Zukunft, von dem her
das Reale, das war und das noch werden soll[,] sichtbar ist. Alles wird sie als die leib-

VI. Teil in der Abschrift Gertrud Jaspers hs. Vdg. für 4.
 
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