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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0227
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Grundsätze des Philosophierens

haftige Realität, die von der Vergangenheit getragen die Zukunft in sich birgt; sie ist
die erfüllte Gegenwärtigkeit, die Wirklichkeit schlechthin, berührt vom Menschen als
ewige Gegenwart, die sich in geschichtlicher Totalanschauung hell wird.
Geschichte heisst sowohl das Geschehen der Menschenwelt (Geschichte als fakti-
sche Geschichte) als auch der Bericht, die Erzählung, das Wissen von ihr (Geschichte
als Wissenschaft). In der Tat ist beides untrennbar. Geschichte ist eigentlich erst seit
der Zeit, seit der Mensch auf seine Geschichte den Blick richtet, sich erinnert und
weiss. Geschichte und Reflexion auf Geschichte gehören zusammen. Erst wenn der
Mensch sich von der Menschenwelt ein Bild macht, ihre Realitäten und Ordnungen
und Forderungen vor Augen stellt, ist Geschichte. Dies hat seinen Grund im Wesen
des Menschen selber:
Da der Mensch das Wesen ist, das sich in jedem Sinne seiner selbst bewusst wird,
richtet er sich auch im Gange des Geschehens nicht nur auf seine jeweiligen Zwecke,
auf die zu bearbeitende Natur und die Gegenstände seiner Bedürfnisse, auf die ande-
ren Menschen3, sondern auf das Geschehen im Ganzen, innerhalb dessen er seine Ab-
sichten verfolgt. Was geschichtlich real mit dem Menschen geschieht, das geschieht
daher zwar im Grunde, ohne von ihm gewusst zu sein; er findet jeweils das Ergebnis
vor, ohne auch dieses im Ganzen auffassen und durchschauen zu können. Aber Ge-
schichte und Gegenwart bekommen, soweit sie gewusst werden, gleichsam eine zweite
Wirklichkeit in dem Bilde, das der Mensch sich jeweils von ihnen macht.
Zum Beispiel: Die Ordnung des Staates durch Gesetze beruht auf Anschauungen
von dem Sinn des menschlichen Daseins und seiner realen Möglichkeiten, wie er etwa
in theokratischen, heroischen, utilitarischen, liberalistischen, marxistischen Bildern
entwickelt wird, auf der Auffassung des Rechtes, und auf der Auffassung der Zwecke
sei es aller, sei es der Herrschenden. Es ist ein radikaler Unterschied, ob ausgegangen
wird von dem Bereich der eigenen Polis innerhalb des grossen, unübersehbaren Raums
der anderen menschlichen Gebilde, oder ob von der eigenen Nation unter Nationen
als dem Endziel, oder ob eine Ordnung der Menschheit als übergreifend, alles Handeln
unter Bedingungen von daher stellend, vor Augen liegt, ob eine Ordnung gemeint ist
für ein in der Zeit beständiges, in der Welt sich vollendendes Imperium oder getroffen
wird für ein Intervall des Daseins bis zum erwarteten Weitende. Keinem der Entwürfe
entspricht die dann eintretende Realität. Was aus dem Wesen des Menschen zur Er-
scheinung kommt in Zuständen und Situationen, welche durch jene Auffassungen
mitbestimmt sind, muss nicht nur ununterbrochen zu faktischer Verwandlung des
menschlichen Daseins führen, sondern auf die Auffassung schliesslich zurückwirken
durch neue Erfahrungen. - Ein anderes Beispiel: Die Auffassung von allgemeinen wirt-
schaftlichen Zusammenhängen und die Auffassung der gegenwärtigen wirtschaftli-

nach Menschen im Ms. gestr. als Freunde oder Feinde
 
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