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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0241
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Grundsätze des Philosophierens

der Vergangenheit. Dieses empirische Geschichtsbild bescheidet sich vor der unüber-
sehbaren Mannigfaltigkeit entweder im Aufweisen von Regelmässigkeiten und im un-
abschliessbaren Beschreiben des Vielen: es wiederholt sich dasselbe; es gibt im Verschie-
denen das Analoge; es gibt die machtpolitischen Ordnungen in ihrer typischen Folge
von Gestaltungen und es gibt das chaotische Durcheinander; es gibt regelmässige Stil-
folgen im Geistigen und es gibt die Nivellierung in das unregelmässig Dauernde. Oder
man sucht ein einheitliches, zusammenfassendes Totalbild der Menschheitsgeschichte
zu gewinnen: man erblickt die tatsächlichen Kulturkreise und ihren Ablauf; man sieht
sie getrennt und dann in Wechselwirkung; man erfasst ihre Gemeinschaft in analogen
Sinnfragen und gegenseitiger Verstehbarkeit; man denkt schliesslich eine einzige Sinn-
einheit, in der alles Mannigfaltige seinen Platz hat (Hegel).
Unser abendländisches Bild der Totalgeschichte ist das christliche. Unsere Zeitrech-
nung ist seine tägliche Bezeugung. Der Gang der Weltgeschichte, sagt noch Hegel, geht
zu Christus hin und kommt von Christus her: Christus ist die Achse der Weltge-
schichte.177 Dies aber ist ein Glaube, der infolge eines bestimmten historischen Schick-
sals von der Spätantike her das Abendland, jedoch nur das Abendland beherrscht.
Ist diese Achse eine Achse für einen besonderen Glauben in seiner historischen Be-
grenztheit, so wäre dagegen eine empirisch reale, für alle Menschen gütige Achse zu fin-
den. Diese wäre dort, wo der tiefste Einschnitt und die überwältigendste Fruchtbarkeit
in der Gestaltung des Menschseins geschehen ist in einer Weise, die für das Abendland
und Asien, ohne den Maassstab eines bestimmten Glaubensinhalts, wenn nicht empi-
risch zwingend einsehbar, doch aber auf Grund empirischer Einsicht überzeugend sein
könnte. Diese Achse der Weltgeschichte liegt etwa zwischen 800 und 200 vor Christus.
Sie kann kein willkürlich festgelegtes Jahr sein, sondern nur eine Zeitspanne geistig um-
wälzender Ereignisse. Gleichzeitig in China, in Indien, im Abendland brechen für das
Bewusstsein des Menschen die Grenzsituationen und Rätsel in den radikalen Sinnfra-
gen auf, die bis heute gestellt werden. Antworten gaben damals Religionen und Philo-
sophien, die bis heute herrschen oder doch wirken. Es gab neue grundsätzliche Verwirk-
lichungen des Menschseins durch bewusste Lebensordnung. Von dem damals
Geschaffenen lebt die Menschheit bis heute.
Diese Achsenzeit ist das hohe Zeitalter innerhalb der sichtbaren Geschichte.178 Das
Gesamtbild der Geschichte aber gliedert sich empirisch in drei grosse Zeitalter, die Vor-
geschichte, die Geschichte, die Zukunft:
1. Vorgeschichte: Die unabsehbar langen vorgeschichtlichen Zeiträume enthalten
zunächst die Menschwerdung. Knochenreste von Menschen und menschenähnlichen
Lebewesen und primitivste Werkzeuge sind gefunden worden aus Zeiträumen, die
Jahrhunderttausende [,] vielleicht eine Million Jahre umspannen. In diesen Zeiten
müssen die Grundzüge des Menschseins entstanden sein, die bis heute da sind: Biolo-
gische Krankheitsanlagen, wie die nur beim Menschen, aber bei allen Menschenras-
 
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