Metadaten

Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0261
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
258

Grundsätze des Philosophierens

und des Maasses der Zerstörung gebracht haben, aus deren Ergebnissen die geistigen
Verfallserscheinungen sich herleiten. Eine zureichende Antwort ist nicht möglich, ob
sie nun empirisch causal, geistig verstehend, metaphysisch deutend versucht wird.
2. Die Frage ist, was bleibt:
Wenn das grosse, öffentliche, universale Geschehen bodenlos anmutet, wenn al-
les, auch das quantitativ Überwältigende vordergründlich aussieht, wenn der Einzelne
ohnmächtig vor dem Gesamtgeschehen steht, an dem er, um am Leben zu bleiben,
ohne Willen mitwirkt, dann ist die Frage für jeden, wo das eigentliche Sein liegt.
Das Zeitalter lässt es mit Gewissheit nur erfahren im Intimsten, Privatesten, Ver-
borgensten.
Der Boden im einzelnen Menschen, der je zu sich selbst kommt in einer Commu-
nication vom Einzelnen zum Einzelnen in der lebenwährenden Spannung liebenden
Kampfes, ist Bedingung aller anderen Wahrheit, die wirklich werden soh. Das Intim-
ste ist das Unangreifbarste, aber auch das Unerlässlichste des Menschseins. Es hatviel-
leicht noch in keinem Zeitalter den Accent gehabt wie heute. Das, was öffentlich keine
Rolle spielt und nicht Thema wird, ist die Substanz, die alles trägt, was noch mensch-
liches Gewicht hat, und die die Cohaerenz der Dinge aufrecht erhält, welche durch
alle Organisation, Mechanisierung, Automatisierung vergeblich in scheinbarer Stei-
gerung festgehalten wird. Das sich verbindende Menschsein hat Bestand, während alle
blosse Organisation in einer Nacht wie eine Maschine, in die eine Handvoll Sand ge-
worfen ist, still stehen und brechen kann.
Aber es ist ein Rückgang der Wahrheit und Wirklichkeit auf ein Minimum, wenn
sie im Einzelnen mit dem Einzelnen gewiss wird. Die Realität des Menschseins im Gan-
zen der Geschichte kann selber nicht bleiben, wenn sie nicht beseelt wird von der
Wirklichkeit, die nur im Übergang auf den Einzelnen sich zurückziehen kann. Woher
wird die Wahrheit im Ganzen, in der Öffentlichkeit des gemeinschaftlichen Lebens,
sich wiederherstellen? Oder wo ist sie noch da?
Nur erfüllte Zeiten, die in grossen Ordnungen eine Weile ihren Frieden und ihr
Schöpfertum haben, vermögen darauf zu antworten. Es vorwegnehmen zu wollen,
würde bedeuten, es aus dem Gedanken zu schaffen. Das ist unmöglich. Auch die all-
gemeine Wendung, die öffentliche Wirklichkeit der Wahrheit könne nur in Neugrün-
dung der uralten Wahrheit zu gegenwärtiger Wirksamkeit erwachsen, sagt nichts zum
Gehalt dieses Neuen. Denn nicht in Wiederherstellung verschwundener Wirklichkei-
ten, sondern in Neugründung durch deren Gehalte zu unvoraussehbaren Gestalten
kann entstehen, was in Zukunft das Menschsein in der Öffentlichkeit trägt.
3. Die Grundfrage ist für den Einzelnen, wo er stehe und stehen wolle:
Das Geschehen im Ganzen ist in keines Menschen Hand. Auch der im Augenblick
Mächtigste ist begrenzt auf die Reichweite seines Willens. Ein ihm verborgener Wider-
stand lässt ihn scheitern am Unvorhergesehenen; und es wird durch ihn wirklich, was
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften