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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0263
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2ÖO

Grundsätze des Philosophierens

sein Leben zusammenklingt; er will um die anderen Möglichkeiten wissen, von denen
er in seiner Daseinsrealität3 jetzt ausgeschlossen ist, die aber doch seinem anschauen-
den Verständnis erreichbar sind. Er will das Woher und Wohinb sich erhellen lassen.
Was Zukunft bringen kann, und was als Vergangenheit war, ist jeweils heute auf eine
selber sich geschichtlich verwandelnde Weise bewusst. Erfüllt gegenwärtig sein kann
nur, wer in Vergangenheit und Zukunft durch beide des Ganzen inne wird. »Wer nicht
von dreitausend Jahren sich weiss Rechenschaft zu geben, bleibt im Dunkel unerfah-
ren, muss von Tag zu Tage leben.«203 Alles historische Wissen hat seinen eigentlichen
Sinn als Mittel klaren Ergreifens der dem einzelnen zugänglichen Realität. Die ange-
eignete Geschichte wird als Ganzes gegenwärtig. Sie zeigt die Welt, in der ich lebe, in-
dem sie mir diese Welt aus dem handgreiflich Gegenwärtigen heraus erweitert ins Un-
absehbare.
Im Verhältnis des Einzelnen zur Geschichte liegt daher mehr als ein Wissen von
der Geschichte. Wenn das Wissen von ihr ein Moment der Aktivität ist, so hat es Sinn,
diese Aktivität selber zum Thema unserer Erörterung zu machen. Wir tun es auf zwei-
fache Weise:
Erstens werfen wir den Blick auf das Sein des Einzelnen als Glied des Ganzen, zwei-
tens auf seine Aktivität als solche. Auf dem ersten Wege vergegenwärtigen wir die Po-
larität des Einzelnen und des Ganzen, diese Spannung, in der das eine nicht ohne das
andere ist, und die darin erwachsenden Widersprüche, die unser Bewusstsein in Bewe-
gung halten. Auf dem zweiten Wege werfen wir einen Blick auf die Weisen der Aktivi-
tät des Einzelnen in seinem Verhalten zu der ihm geschichtlich gegebenen Realität.
a. Polarität des Einzelnen und des Ganzen
i. Die überwältigende Macht des Ganzen über die Ohnmacht des Einzelnen - und die
Macht des Einzelnen aus seiner eigenen Aktivität: Für den Einzelnen ist die Weltge-
schichte ein Geschehen - so sagt der Verstand -, das er weder bewirkt, noch für das er
Verantwortung hat. Durch dies Geschehen ist er - ohne es gewollt zu haben - als die-
ser in dieser Situation im Dasein. Er muss erleiden, ob dieses Dasein ihm Chancen gibt
und welche, und wie es ihn zerstört.
Der Wirkungsraum des Einzelnen ist zumeist eng. Auch der machtvollste Eingriff
in die Geschichte durch Staatsmänner und Heerführer, durch Propheten, Denker und
Dichter, ist ein Eingriff unter begrenzten Horizonten, ein Handeln aus dem jeweils Vor-
gestellten und Gewussten, niemals ein Hervorbringen dessen, was - etwa im Plan eines
Ganzen - gewollt wurde: es wird bewirkt, was nicht gedacht und daher nicht gewollt

a Daseinsrealität im Ms. hs. Vdg. für Wirklichkeit
t> nach Wohin im Ms. gestr., wenn er es auch nicht wissen kann, in möglichen Vorstellungen durch
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