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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0277
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Grundsätze des Philosophierens

der Einsenkung können in Verkehrungen Grund für das Sichverlieren des Menschen
werden.
aa. Sichverwandeln: Nichts in der Welt ist endgültig. Die Stabilität der Zustände, sel-
ten wie in den Jahrhunderten des römischen Imperiums, sind ein täuschender Schein.
Immer bleibt die Unruhe der Dinge, ihr Anderswerden, die Ungewissheit des Gesche-
hens. Der Mensch als Einzelner, preisgegeben dem Gang der Dinge, wandelt sich mit
seinen Aufgaben und Möglichkeiten. Auch in relativ stabilen Zuständen bleibt für den
Einzelnen ein Mass von Ungewissheit, Spielraum von sich wandelnden Chancen, so
dass er selber sich verwandeln muss, um seinen Situationen gewachsen zu bleiben.
Daher ist es eine Täuschung, in der Welt die Einrichtung des Ganzen als die wahre
Herrschaft und Ordnung endgiltig als die allein rechte scheinbar wollen zu können.
Und eine Täuschung ist es, der Mensch als Einzelner könne sich gleich bleiben. Es ist
grade eine Stärke des Menschen, ist seine Phantasie und sein Ernst, im Ergreifen der
Zwecke beweglich, allem Gedachten und Gewollten noch überlegen zu bleiben. Fixie-
rung wird Verrat des Menschen an sich selbst. Offenheit setzt Bewegung voraus: »nur
wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt.«209
Aber das Sichverwandeln wird zur Nichtigkeit des Menschen, wenn im Grunde der
Verwandlung die wesentliche Identität der Existenz mit sich selbst verloren geht, wenn
die Continuität, in der alles bewahrt wird, preisgegeben ist, wenn die Verlässlichkeit
der geschichtlichen Einsenkung im Entschluss nicht mehr besteht. Dann ist im Sich-
verwandeln nichs mehr gegenwärtig, wird es zum chaotischen, beliebigen Nachein-
ander blosser Daseinszustände.
bb. Selbstbehauptung als Daseinsbedingung: Selbstbehauptung ist als Selbstbe-
hauptung des Einzelnen und als Selbstbehauptung in Gemeinschaft Daseinsbedin-
gung. Der Weg zu immer umfassenderer Gemeinschaft bis zur Einheit der Menschheit
im Weltimperium (ein Reich, eine Welt, eine Ordnung, ein Herrscher) würde auch am
Ende nicht Ausschaltung der Selbstbehauptung bedeuten, sondern Ordnung der Wei-
sen der Selbstbehauptung. Wo Einheit gemeinschaftlichen Daseins erreicht wird,
bleibt die Notwendigkeit der Selbstbehauptung, weil mindestens die Natur als ein zu
bekämpfendes Aussen fortbesteht, weil ferner die Spaltungen der Menschen unter sich
und in sich fortdauern. Aber durch die Gemeinschaft ist doch aller Kampf der Selbst-
behauptung unter gütige und wirksame Bedingungen gestellt.
Die Notwendigkeit der Selbstbehauptung scheint preisgegeben im Heiligen: Nicht
widerstehen, Kampflosigkeit, Erdulden ohne Gegenwirkung bedeuten aber den siche-
ren Weg zur indirekten Selbstvernichtung, wenn nicht wegen einer Wertschätzung
solcher Heiligen ihre Sustentierung und Pflege durch Andere geschieht, wobei die Täu-
schung der Daseinsmöglichkeit des Heiligen dadurch aufrecht erhalten wird, dass der
Heilige als wenn auch noch so bescheidener Nutzniesser vergisst: auch er lebt von je-
nem Bösen, das er selbst zu tun verweigert.
 
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