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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0286
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Grundsätze des Philosophierens

283

Kenntnis der Grundlinien der politischen Realitäten, der faktischen Zusammenhänge
menschlicher Zustände und menschlichen Handelns. Es ist ein radikaler Unterschied
zwischen dem philosophischen Denken und der politischen Tat. Das hat sich seit Plato
unwidersprechlich gezeigt. Ein Mensch kann das klarste politische, sociologische, öko-
nomische Wissen haben, das hellste philosophische Bewusstsein seiner Antriebe und
Ziele gewinnen und doch kann ihm die Wahrheit und Gewissheit concreter politischer
Entscheidung ausbleiben. Denn diese ist ein ursprünglicher schöpferischer Akt in der
je einmaligen geschichtlichen Situation, und hat nur einen Massstab: den Erfolg, das
heisst das, was durch sie wirklich wird.
Philosophieren bedarf der Bescheidung. Es kann vorbereiten durch Klärung von
Antrieben und Zielen. Es kann aber nichts tun, was politisch heisst, sowenig wie es
technisch, wissenschaftlich, dichterisch, künstlerisch etwas tut. Allein das innere
Handeln des Einzelnen mit sich selbst ist sein Ansatzpunkt. Aus diesem kommt es und
an dieses richtet es seinen Appell.
Wir erörterten den Sprung zwischen Philosophie und Wissenschaft gegenüber der
praktischen Politik. Nun ist schon vorher ein Sprung zwischen der Philosophie des Po-
litischen gegenüber der Wissenschaft von den politischen Realitäten. Philosophische
Erhellung ist Bewusstseinsklärung, nicht ein Wissen. Wird sie in fixierten Sätzen als sol-
ches behandelt, so ist sie missverstanden als Einsicht, die verwendbar wäre. - So ist es
ein sich immer wieder aufzwingender Irrtum, eine Ordnung, die als faktisch gesche-
hend erkannt wird (wie die Gesetzlichkeit des Naturnotwendigen) zugleich als Ord-
nung gelten zu lassen, die sein soll, also noch nicht ist und erst verwirklicht werden
muss. Denn was ohnehin schon ist, bedarf keines Sollens; ein Sollen, das seinen Inhalt
als an sich notwendig geschehend auffasst, ist kein Sollen mehr. Dieser Grundirrtum
geht durch alle Totallehren der Jahrtausende (Chinas, Indiens und des Mittelalters),
wenn sie ein geschlossenes, harmonisches Ganzes zu erkennen meinten, das zugleich
ist und sein soll, das vermeintlich wissenschaftlich erkannt ist und philosophisch un-
ser Seinsbewusstsein erhellt. Solch verwirrendes Ineinander ist in der Grossartigkeit der
Anschauung verführend. Jedoch werden die Offenheit für die Realitäten (die wissen-
schaftlich ins Unendliche erkennbar sind) und die Offenheit für das Umgreifende (das
philosophisch gegenwärtig wird) nur bewahrt, wenn man den Abschluss in Totalleh-
ren vermeidet. Nur dann bleiben wir unbefangen. Dann ist jeder planende Entwurf nur
ein Versuch in concreter geschichtlicher Situation, ein Relatives, nicht ein Absolutes,
ein Partikulares, nicht ein Ganzes. Dann gibt es keine geschlossene Weltordnung, son-
dern einen Raum mehr oder weniger klar erkennbarer, durchgehender Notwendigkei-
ten je besonderer Art. Dann ist die Welt gleichsam aufgebrochen und zeigt in den Brü-
chen so gut wie in ihren Vollendungen die Transcendenz. Zwar gibt es einen dauernden
Bestand von Einsichten, aber kein Wissen und keinen Bestand des Ganzen schlecht-
hin. Das Ewige ist nicht als Welt und als irgendeine Ordnung der Welt, sondern nur das
 
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