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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0287
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Grundsätze des Philosophierens

im Bruch der Welt fühlbare Sein Gottes. In der Welt gibt es Ordnungen mannigfacher
Art, gibt es Theorien solcher Ordnung, gibt es Entwürfe herzustellender Ordnung. Aber
die Weltordnung schlechthin ist eine der Ersatzbildungen für das Sein der Gottheit,
sachlich täuschend und existentiell lähmend.
Wenn wir Philosophie, Wissenschaft und praktische Politik trennen, so bleiben wir
in der Klarheit unbefriedigt. Die Trennung zerschneidet, was zusammengehört. In der
Unverbundenheit scheinen alle drei ihren Sinn zu verlieren. Die Schärfe der Trennung
ruft daher - im Gegensatz zu unklaren und täuschenden Vermengungen - nach ihrer
wahren Verbindung. Ohne Philosophie und ohne Wissenschaft ist das politische Han-
deln wie eine stolpernde Bewegung im Dunkel. Ohne Wissen des Wissbaren bleibt das
Philosophieren ein Träumen im Nichtseienden.
In der Tat sind Philosophie, Wissenschaft und Politik durch die Geschichte hindurch
immer verbunden. Denn immer ist praktische Politik ein Denken. In der Geschichte des
politischen Denkens lassen sich zwei Linien unterscheiden, eine reale und eine philoso-
phische Linie. Reale Politik ist Verwirklichung im Element zugleich geistigen Kämpfens
mit Beschränkung auf den concreten verwirklichenden Gedanken (so in der Politik von
Solon210 bis Perikies, von der Entstehung Roms in seinen Verfassungskämpfen bis in die
Gracchenzeit, englische Verfassungskämpfe des 17.[,] amerikanische des 18. Jahrhunderts,
Frankfurter Parlament, diesen Erinnerungen an gehaltvolle politische Realitäten, die,
auch wenn sie gescheitert sind, zu den hohen Erinnerungen gehören, mit den ihnen ei-
genen, nicht vorbildlichen Mängeln). Philosophische Politik dagegen ist Entwurf im
Ganzen, Erhellung der Totalität des politisch möglichen Bewusstseins, Darstellung der
Welt, ihrer Ordnung, die ist und die sein soll (Plato, Aristoteles, die organischen Social-
lehren des Konfucius, die indische Dharmalehre, der Thomismus, die Naturrechtslehre
usw.). Die reale Politik ist in ihrer Geistigkeit weitgehend unbewusst, die philosophische
ist das Suchen maximalen Bewusstseins und Selbstbewusstseins.
Beide Linien scheinen sich treffen zu sollen. Entfernen sie sich, so wird das Philoso-
phieren zu unverbindlicher Betrachtung aus einem imaginären Standpunkt, ein ohn-
mächtiges Beurteilen ohne Realität, und wird die Politik zerstreut, opportunistisch, rein
augenblicklich, gewaltsam. Treffen sie sich, so wird einerseits das Philosophieren auf-
geschlossen für das, was faktisch geschieht, doch immer noch ohne als Philosophie ein-
greifen zu wollen; und dann wird andrerseits die reale Politik von Menschen entwickel-
ten philosophischen Bewusstseins ergriffen, die zwar von der Philosophie die Klarheit
der letzten Ziele und Antriebe, nicht aber die concrete Anweisung, vielleicht ideenhafte
Führung im Ganzen, nicht aber Recepte im Einzelnen gewinnen.
Was ein politisch handelnder Mensch weiss und welches philosophische Bewusstsein
im Ganzen ihn beseelt, das bestimmt seine Vorstellungen und seine Entwürfe und führt
sein Tun. Wo hohes philosophisches Denken und politische Realität sich träfen in einer
Coincidenz von Denken und Tun, da würde uns die gewichtigste Lehre zu Teil. Selten und
 
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