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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0289
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286

Grundsätze des Philosophierens

c. Übersicht
Im Ganzen der Gemeinschaft herrscht eine Polarität, welche die grundsätzlichste ist:
zwischen Autorität und Freiheit. Autorität lebt als Überlieferung des Soseins der Zu-
stände, die sich auf unvordenkliche Vergangenheit gründen. Freiheit vollzieht sich im
Planen, das auf die bessere Zukunft geht. Beide Pole schliessen sich nicht aus, obgleich
sie in ständiger Spannung, oft im Kampf liegen. Jeder Pol für sich erweist sich als un-
genügend und fordert den anderen zur Ergänzung.
In der Gegebenheit des Soseins der Zustände liegt nicht nur der Gehalt einer im
letzten Grunde unbefragbaren, nur zu vertiefenden Autorität, sondern auch die Mög-
lichkeit der Verwandlung ihrer Erscheinung. Gegen die fixierte und damit verend-
lichte Autorität wendet sich unsere Freiheit. Diese ist Chance und Gefahr auf unserem
Wege zum eigentlichen Menschsein. Entweder erfüllt Freiheit sich aus tiefer erfasster
Autorität und kämpft aus ihr gegen abgeglittene, erstarrte, entleerte, missbrauchte Au-
torität. Oder die Freiheit erwächst aus dem Nichts des Beliebigen und zerstört. In un-
endlicher Dialektik bewegt die Spannung von Autorität und Freiheit unser Tun. Die
eine ist Moment der anderen; sie werden Gegner in ihren besonderen Gestalten; jede
stellt sich im anderen selber wieder her.
Der Gegensatz von Autorität und Freiheit bedeutet einen Gegensatz unseres Verhal-
tens. Wir nehmen hin, was ist, oder wir beurteilen, wollen verbessern, planen und ver-
wirklichen Veränderungen der Zustände. Soweit historische Erinnerung zurückgeht, ha-
ben Menschen immer, wie sie die Natur sich dienstbar machten, so auch für ihr
gemeinschaftliches Dasein Einrichtungen getroffen, Ordnungen der Arbeit, der Dienst-
barkeit gestiftet und dafür Gesetze gegeben. Es ist ein alles verändernder, erst in den letz-
ten Jahrhunderten getaner Schritt, wenn dies nicht mehr nur im einzelnen, für beson-
dere Zwecke und zufällig, sondern wenn es methodisch und systematisch [,] d.h. auf das
Ganze hin geschieht. Bevor dieser Schritt getan wurde, wurden einzelne Erfindungen
inbezug auf Naturbeherrschung und einzelne Einrichtungen inbezug auf menschliche
Verhältnisse gelegentlich neu erworben und dann bald endgiltig. Sie gelangen einmal,
dann aber waren sie, als ob sie wie die Natur selber immer gewesen seien und immer so
sein müssten. Erst wenn das Planen methodisch wird, wird jeder bisher erfolgreiche
Schritt unter die Frage gestellt, welche Mängel der einzelne hat und wie es besser zu ma-
chen ist; alles Bisherige, wie alles weiter zu Unternehmende gilt als Versuch, nicht als
endgiltiges Soseinmüssen. Und erst wenn das Planen systematisch wird, geht es auf das
Ganze der Zustände. Die Autorität wird nicht nur im Einzelnen einmal durchbrochen,
sondern im Ganzen in Frage gestellt.
Unsere Erörterungen werden nacheinander diese beiden Pole zum Thema machen:
das freie Planen und Versuchen zur Besserung der Zustände (»der Sinn des Planens«)
und das Leben aus der Autorität (»der Sinn der Autorität«).
 
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