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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0292
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Grundsätze des Philosophierens

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tutionen, Berufe, Gesetze, Rechte und Forderungen. Sie sind, wenn sie auch in den Ge-
wohnheiten täglicher Wiederholungen vergessen, durch Vorstellungen verschleiert
sind, immer wieder leibhaftig da in der Hergabe oder dem Versagen von Gütern und
Leistungen. Nur im Grenzfall der Willkür und Unordnung werden sie drastisch fühlbar
als Gegenwirkung bei Verhaftung, Ausweisung, Enteignung, Wohnungsräumung. Es
sind immer Aktionen von Menschen gegen Menschen und für Menschen, die die Leib-
haftigkeit machen. Die Realität der Staatseinrichtungen in Gebäuden, Büros, Ämtern,
Gesetzbüchern, wirtschaftlichen Unternehmungen und Anlagen ist immer wieder
durch die Menschen da, welche darin die Funktionen vollziehen.
Diese selbstverständliche Leibhaftigkeit ist die tägliche, ständige Gegenwärtigkeit
des Realen unserer Gemeinschaft. Weil es aber menschliche Gemeinschaft ist, ist die
Leibhaftigkeit Träger eines gegenseitigen Willensverhaltens. Sofern darin die einzel-
nen Menschen Funktionen werden, Vollstrecker sind und nicht eigenmächtige Urhe-
ber ihres Entschlusses, begegnen dem Einzelnen im Tun der gemeinschaftlichen Dinge
Realitäten, die einen über alle einzelnen Menschen hinausgehenden Charakter haben.
Realitäten liegen in dem[,] worauf der Einzelne rechnen kann, was er auf Grund der
Gesetze, Sitten, Mitteilungen erwartet, in den Chancen. Der Einzelne stellt sich dieser
Realität gegenüber, veräusserlicht sie für sich und behandelt sie als sein Feld eigennüt-
ziger Interessen und Berechnungen. Bei solcher Distanz ist die Realität der menschli-
chen Gemeinschaft in einer ihr eigentümlichen Schwebe. Der einzelne Mensch ist sel-
ber ganz und gar durch eigenes Tun hineinverflochten in diese umfassende Realität,
welche in den unmittelbaren Leibhaftigkeiten sich äussert, und er behandelt sie wie
ein anderes, das ihm als fremdes gegenübersteht, das benutzt und gelenkt werden
kann. Die Realität der Gemeinschaft bleibt aber immer das Umfassende. Der Einzelne,
der sich gegen sie wendet, steht doch in ihr. Er nutzt sie aus und wird ausgenutzt. Die
distaneierte Realität ist nicht der jeweils einzelne leibhaftige Mensch, sondern etwas
anderes, das hinter diesen Leibhaftigkeiten, bemerkt oder unbemerkt, bewusst oder
unbewusst, begriffen oder unbegriffen steht.
In den Leibhaftigkeiten hat wohl alle Gemeinschaftsrealität ihr Kriterium, ob sie
nämlich real ist oder nicht, aber sie ist viel mehr als diese Leibhaftigkeit. Sie zu begrei-
fen bedeutet eine ganze Welt zu erkennen. Diese Erkenntnis geschieht von Anfang an
im praktischen Verhalten mit Hilfe ungeprüfter Vorstellungen zerstreuter Art. Sie ge-
schieht methodisch und systematisch im wissenschaftlichen Forschen, im philoso-
phischen Deuten und in der auf das Ganze gehenden Politik.
Wie diese Erkenntnis aussieht, ist in den Grundzügen durch Charakteristik der Ob-
jektivierungen zu sehen, in welchen die Realität der Gemeinschaft gedacht wird.
cc. Die Objektivierungen: Was die Realität der Gemeinschaft sei, ist also nicht in
einer eindeutigen Antwort zu sagen. Vielmehr ist diese Realität zunächst in ihren
Grundkategorien zu entwickeln.
 
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