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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0312
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Grundsätze des Philosophierens

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Zum Beispiel: Wissen bringt das Faktische. Ich stelle fest, was real ist. Ich genüge
der Forderung der Illusionslosigkeit. Dann aber gleite ich ab: Realität als solche - das
Wissen von dem[,] was nun einmal so ist - bringt die Suggestion des Soseinsollenden.
Das gegenwärtig Unentrinnbare wird zum Absoluten. Ich will zufrieden sein. Ich gehe
mit der jeweils gegenwärtigen Macht, lebe aus der Conjunktur, gehorche nicht nur der
realen Gewalt, sondern verherrliche sie (sogenannte Realpolitik und Byzantinismus).
Ein anderes Beispiel: Aus realer Einsicht in gegenwärtige Zustände folgt etwa die
Unmöglichkeit, mit ihnen, wie sie sind, so zu leben, dass die Forderungen des Mensch-
seins erfüllt werden. Aus dem politischen Willen zu wahren, den Menschen zum Auf-
schwung bringenden Zuständen sondere ich mich (wie Plato) ab zu einem staatsfreien
Leben, soweit es möglich ist. Durch Absonderung will ich den Funken durch die Zeit
tragen. Ich unterscheide den Bürger und den Menschen und überwinde die falsche
Identität von Einzelnem und Staat. Aber ich gleite ab: Aus dem Positiven des Bewah-
rens und Vorbereitens wird ein Leben der Unlust, des negativen Beurteilens, des stän-
digen Scheltens, des Menschenhasses. Diese Hoffnungslosigkeit macht passiv. Statt ir-
gendeiner Verwirklichung bleibt blosse Bewertung.
Wissenschaft, Philosophie und konkrete Politik sind nur im Bündnis miteinander
auf dem Wege zu wahrer Wirklichkeit.
Fehlt der concrete politische Wille, so werden Wissenschaft und Philosophie leer.
Wissen soll mir Weg und Mittel zeigen, wenn ich ein Ziel habe; ich suche mir alles Wis-
sen zu erwerben, das ich brauchen kann, und wehre mich gegen ein vorzeitiges blin-
des Handeln. Philosophie macht mir das Ziel klar, sodass ich weiss, was ich im Endziel
will; ich wehre mich gegen ein Handeln ohne Klarheit des absoluten Endziels. Vor je-
dem Tun will ich wissen, ob es auch gelingt, ob die richtige Zeit gewiss ist; will ich fer-
ner wissen, was der letzte Sinn im Ziel der Menschheit ist, dem ich diene. So werde ich
nie zufrieden sein. Denn niemals reicht mein Wissen aus und niemals ist völlige Klar-
heit über den Endsinn. Ich habe jedoch nicht beliebige Zeit. Die Spanne des gegebe-
nen Lebens muss genutzt werden, die Zeit des Wartens ist begrenzt. Ich muss wagen
auch bei unvollkommenem Wissen, wenn ich überhaupt leben und verwirklichen will,
sonst werde ich durch den absoluten Wissensanspruch gelähmt. Und ich muss als han-
delnder Mensch etwas von der Wahrheit des gefährlichen Satzes wagen: der kommt
am weitesten, der nicht weiss, wohin er geht.228
Löst sich aber die concrete Politik von Wissenschaft und Philosophie, so gerät sie
in das reine Glücksspiel. Sie rennt in ein Dunkel, bis sie sich überschlägt und in einem
ungeheuren Unheil alles, was mit ihr und gegen sie war, mit sich begräbt.
a. Das Ziel der Weltordnung
Die Zukunft planen, das setzt ein Ziel voraus. Für die Zukunft arbeiten, heisst teilneh-
men am Wirken auf dieses Ziel hin. Es ist die alte Frage, was dieses Ziel sei, die Frage
 
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