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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0333
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Grundsätze des Philosophierens

Aber, so ist gegen unsere These zu sagen, wie kann falsch sein, was eine so sichtbare
Realität in der Gestaltung der menschlichen Dinge und eine so offenbar segensvolle Wir-
kung neben allem Verhängnis gehabt hat? Die Realität der Kirche muss doch einer Rea-
lität des Menschseins entsprechen. In der Tat ist in der katholischen Kirche wahre Reli-
gion und grossartiger Aufschwung. Das unterscheidet sie nicht von anderen Kirchen
und Religionen und davon ist hier nicht die Rede. Aber daneben ist das Schaurige der
Macht und aller ihrer Auswirkungen in dieser Kirche auf den Gipfel getrieben. Diese Rea-
lität entspricht in der Tat einer Realität des Menschseins. Es ist die Gefahr, dass sie am
Ende obsiegt und dass die Menschheit den Frieden eines langen Schlafes in der durch
solche Kirche geheiligten Nivellierung einer technischen Daseinsordnung und despo-
tischen Machtverfestigung gewinnt. Es ist nicht entschieden, was das Ende ist. Gerade
darum ist der Blick zu öffnen auf die Möglichkeiten. Wir dürfen unwahr nennen, was
real wird um den Preis des Verlusts des Menschseins und seines Gottesglaubens in sei-
nen höchsten Möglichkeiten.
Die Antriebe, die der Kirche entgegenkommen, sind:
Man will die Herrlichkeit auf Erden, indem man die Kirche will. Man umgeht das
faktische Brüchigsein der Welt durch leibhaftige Gegenwart der Transcendenz in der
Kirche und ihrem Kult.
Man will Macht und will von Macht geführt sein. Man drängt in einen Zustand des
Gehorsams. Man möchte um die Freiheit herumkommen.
Man will Einheit, weil Einheit die Wahrheit garantiert, und weil sie die Macht voll-
endet.
Wo diese Antriebe absolut werden, ist die Communication abgebrochen zugunsten
des Einverständnisses in einem Unbegriffenen, Bestehenden, Bewegungslosen. Es ist
eine Starre wie im Selbstbehauptungswillen des Daseins. Hier liegt im Menschsein eine
Grenze der Möglichkeiten. Mit Glaubenskämpfern lässt sich nicht reden.241
Es ist ein radikaler Unterschied zwischen jeder Idee einer Weltordnung und der Idee
eines Reiches Gottes. Eine Weltordnung ist in unendlicher Annäherung sinnvoll in
der Welt zu versuchen. Das Reich Gottes ist grundsätzlich in der Welt unmöglich. Die
Idee des Reiches Gottes entwirft einen Zustand, in dem die Seelen widerstandslos in
einander scheinen, sich offen vor Augen liegen, keinen Machtwillen, nur Liebe ken-
nen, die Welt als indifferent haben fallen lassen, nichts tun als Gott dienen in An-
schauen und Dank und im Jubel, seiner ansichtig zu sein.
In der Geschichte haben beide Ideen sich verbunden. Man wollte fälschlich das
Reich Gottes auf Erden und geriet dabei in Verwirrung und Unwahrhaftigkeit, in An-
archie und Unheil. Aber im intimsten Leben der Einzelnen bei Beseeltsein durch diese
Idee des Reiches Gottes, dem sie angehören, entstehen Forderungen, die in der Welt
zu schrittweiser Verwirklichung drängen. Doch immer ist ein Abgrund zu übersprin-
gen. Denn in der Welt bleiben die grundsätzlich anderen Voraussetzungen, welche
 
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